VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 27.10.2022 - A 4 K 1894/22 - asyl.net: M31147
https://www.asyl.net/rsdb/m31147
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot hinsichtlich Sri Lankas wegen posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS):

"1. Für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist der Nachweis eines traumatischen Ereignisses Voraussetzung. Es gibt keine posttraumatische Belastungsstörung ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein ent­sprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat.

2. Da die einschlägigen fachärztlichen bzw. psychologischen Gutachten wesentlich auf den Angaben des Betroffenen beruhen, bedarf es im Hinblick auf das Vorliegen eines traumatisierenden Ereignisses der Prüfung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Betroffenen. Die Feststellung des behaupteten trauma­tisierenden Ereignisses ist somit Gegenstand der gerichtlichen Sachverhaltswürdigung und unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Posttraumatische Belastungsstörung, Glaubwürdigkeit, Attest, Beweiswürdigung, traumaauslösendes Ereignis, Trauma, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Abschiebungsverbot, Sri Lanka, medizinische Versorgung, psychische Erkrankung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60a Abs. 2c, EMRK Art. 3, VwGO § 108 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

15 a) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG liegt nicht vor. [...]

24 Zur wirtschaftlichen Lage in Sri Lanka hat der VGH Mannheim im Urteil vom 20.07.2022 - A 10 S 1898/21 - juris Rn. 49 bis 55 Folgendes ausgeführt: [...]

32 Aus alledem folgt für das Gericht jedoch nicht, dass in Sri Lanka gegenwärtig anzunehmen wäre, dass Rückkehrer in einer Art und Weise auf Lebensverhältnisse und Versorgungsengpässe treffen, welche es den Betroffenen unmöglich machen würden, ihren existenziellen Lebensunterhalt zu sichern, so dass sie in einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Art und Weise absehbar der Verelendung preisgegeben würden. Dass die beschriebene Krise für eine Vielzahl der Menschen eine Härte bedeutet, wird nicht bezweifelt. Dafür, dass weite Teile der Bevölkerung nunmehr jedoch gänzlich außer Stande wären, ihre grundsätzlichen Bedürfnisse zu befriedigen, lässt sich den Erkenntnismitteln nichts entnehmen.

33 Dies gilt auch für den konkreten Fall der Klägerin. Sie ist erwerbsfähig. In Sri Lanka hat sie über viele Jahre als Schneiderin gearbeitet. Dass eine psychische oder psychiatrische Erkrankung einer Erwerbsfähigkeit der Klägerin entgegenstehen könnte, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich. [...]

42 b) Ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor.

43 Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. [...]

44 Auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstellen [...].

45 Nach diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Person der Klägerin nicht vor. [...]

48 bb) Individuelle Umstände in der Person der Klägerin, insbesondere gesundheitlicher Art, rechtfertigen nicht die Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

49 Im Hinblick auf die von Dr. ... in der gutachterlichen Äußerung vom … 2021 diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) liegt bei der Klägerin eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG) nicht vor. Bei der Frage, ob es sich bei der diagnostizierten Gesundheitsstörung der Klägerin um eine schwerwiegende oder lebensbedrohliche Erkrankung handelt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit der Präzisierung in § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG klarstellen wollte, dass aufgrund der häufigen Geltendmachung schwer diagnostizier- und überprüfbarer Erkrankungen psychischer Art (z.B. posttraumatische Belastungsstörungen) nur äußerst gravierende Erkrankungen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben darstellen. Eine solche schwerwiegende Erkrankung kann nach der Gesetzesbegründung bei PTBS regelmäßig nicht angenommen werden; in diesen Fällen ist die Abschiebung möglich, es sei denn, sie würde zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zur Selbstgefährdung führen (vgl. BT-Drucks. 18/7538 S. 18). Hiernach könnte ein Abschiebungsverbot wegen einer bei der Klägerin diagnostizierten PTBS allenfalls in einem besonders gelagerten Ausnahmefall angenommen werden (vgl. VGH München, Beschl. v. 06.11.2017 - 11 ZB 17.31463 - juris Rn. 3, 4 und Beschl. v. 20.11.2017 - 11 ZB 17.31318 - juris Rn. 12). Der vorgelegten ärztlichen Stellungnahme lässt sich die Gefahr einer so massiven Gesundheitsverschlechterung indes nicht entnehmen. Überdies bestehen für eine schwerwiegende Gesundheitsverschlechterung keine greifbaren Anhaltspunkte, nachdem weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich ist, dass die Klägerin Medikamente zur Behandlung einer PTBS einnimmt (vgl. OVG Bautzen, Urt. v. 20.04.2018 - 2 A 811/13.A -  juris Rn. 24).

50 Das Gericht ist zudem nicht davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) vorliegt. Nach der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen "Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD 10)" entsteht die posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (traumatisierendes Ereignis, sog. A-Kriterium). Somit ist für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung der Nachweis eines traumatischen Ereignisses Voraussetzung. Es gibt keine posttraumatische Belastungsstörung ohne Trauma und auch beim Vorliegen aller Symptome einer PTBS kann eine solche nur diagnostiziert werden, wenn auch ein entsprechendes Trauma vorhanden war. Aus den Symptomen kann nicht rückgeschlossen werden, dass ein Trauma stattgefunden hat (vgl. Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., S. 752; Steller in: Sonderheft für Gerhard Schäfer, NJW-Beilage 2002, S. 69, 71; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41; OVG Magdeburg, Beschl. v. 01.12.2014 - 2 M 119/14 - juris Rn. 11). Da die einschlägigen fachärztlichen bzw. psychologischen Gutachten wesentlich auf den Angaben des Betroffenen beruhen, bedarf es insoweit der Prüfung der Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Betroffenen (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 02.05.2000 - 11 S 1963/99 - juris Rn. 7; OVG Bautzen, Beschl. v. 21.01.2014 - 3 B 476/13 - juris Rn. 5). Die Feststellung des behaupteten traumatisierenden Ereignisses ist somit Gegenstand der gerichtlichen Sachverhaltswürdigung und unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nach den obigen Ausführungen ist das Gericht gerade nicht davon überzeugt, dass das von der Klägerin geltend gemachte Verfolgungsgeschehen den Tatsachen entspricht. Ein anderes traumatisierendes Ereignis wurde nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich. Fehlt es damit am Nachweis eines traumatisierenden Ereignisses, ist das Symptomspektrum einer PTBS nicht ausgefüllt.

51 Unabhängig von Vorstehendem und selbständig tragend scheitert die Annahme eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch daran, dass nach den individuellen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen der Klägerin nach einer Rückkehr nach Sri Lanka und den dort vorhandenen Möglichkeiten einer Gesundheitsversorgung keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass eventuelle Erkrankungen der Klägerin in Sri Lanka nicht behandelt werden können. Denn die medizinische Versorgung in Sri Lanka ist landesweit gut; es gibt kostenlose staatliche Krankenhäuser und staatliche ambulante Behandlungsstellen, die Krankenbehandlungen vornehmen und notwendige Medikamente gratis zur Verfügung stellen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 18.12.2020 S. 17). In Colombo ist die medizinische Versorgung in einzelnen Fachbereichen auf einem hohen bis sehr hohen Niveau. [...]