VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 12.12.2022 - 2 K 3202/19.GI.A - asyl.net: M31137
https://www.asyl.net/rsdb/m31137
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Mann aus Afghanistan wegen Dolmetschertätigkeit für US-Streitkräfte:

1. Die derzeit vorhandenen Erkenntnisse zur Lage in Afghanistan reichen zwar nicht aus, um pauschal bzw. generell von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung (aller) ehemaligen Regierungsmitarbeitenden, Mitarbeitenden der internationalen Truppen oder vergleichbarer Personen auszugehen.

2. Der Kläger gehört im Wege einer Gesamtschau seiner belegten Tätigkeiten, wozu insbesondere auch eine mehrmonatige Übersetzertätigkeit für die US-Streitkräfte zählt, zu einem besonders gefährdeten Personenkreis, bei dem derzeit von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit für Verfolgungshandlungen seitens der Taliban in Anknüpfung an seine politische Gesinnung ausgegangen werden kann.

3. Bei der Frage des Vorliegens der Ortskrafteigenschaft kann es nicht allein darauf ankommen, ob die Ortskraft für die BRD tätig gewesen ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Übersetzer, Dolmetscher, Sprachmittler, Taliban, Flüchtlingsanerkennung, politische Verfolgung, NATO,
Normen: AsylG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1 Satz 1, Richtlinie 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Auszüge:

[...] im vorliegenden Einzelfall ist zur Überzeugung des Gerichts ungeachtet einer etwaigen Vorverfolgung jedenfalls davon auszugehen, dass der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit für die ehemalige afghanische Regierung sowie insbesondere für die Streitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) im Fall einer unterstellten Rückkehr nach Afghanistan nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG seitens der zwischenzeitlich an die Macht gekommenen Taliban ausgesetzt wäre. [...]

Human Rights Watch veröffentlichte schließlich im November 2021 einen vielbeachteten Bericht, der die summarische Hinrichtung oder das gewaltsame Verschwindenlassen von 47 ehemaligen Angehörigen der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte dokumentiert. Dabei waren Militärangehörige, Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter und paramilitärische Milizen in vier Provinzen betroffen, die sich zwischen dem 15. August 2021 und dem 31. Oktober 2021 den Taliban ergeben hatten oder von ihnen aufgegriffen wurden (UK Home Office v. 19.04.2022, Afghanistan: Fear of the Taliban, S. 31 f.). Dem zufolge führten die Taliban auch Durchsuchungsaktionen durch, um verdächtige ehemalige Beamte festzunehmen und zuweilen gewaltsam verschwinden zu lassen. Bei den Durchsuchungen würden auch Familienmitglieder bedroht und misshandelt, um sie dazu zu bringen, den Aufenthaltsort von Untergetauchten preiszugeben. Einige der schließlich aufgegriffenen Personen seien hingerichtet oder in Gewahrsam genommen worden (BFA v. 04.05.2022, Länderinformation der Staatendokumentation, S. 30). Auch andere Quellen berichten von Hinrichtungen von Zivilisten sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren. In vielen Städten sollen die Taliban nach diesen Berichten – mithilfe von Informationen und Listen – insbesondere nach ehemaligen Mitgliedern der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANDSF), Beamten der früheren Regierung oder deren Familienangehörigen suchen, sie bedrohen und manchmal festnehmen. Manche würden später freigelassen, andere getötet (vgl. BFA v. 04.05.2022, Länderinformation der Staatendokumentation, S. 19; Staatssekretariat für Migration der Schweiz v. 15.02.2022, Verfolgung durch die Taliban, S. 12).

Angesichts der vorstehend skizzierten Erkenntnislage zeigten sich bereits Ende des Jahres 2021 sowohl der UNHCR als auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates besorgt im Hinblick auf das Risiko von Menschenrechtsverletzungen für Personen, bei denen angenommen wird, dass sie derzeit oder in der Vergangenheit mit der früheren afghanischen Regierung, internationalen Organisationen oder den internationalen Streitkräften in Verbindung standen (vgl. ACCORD v. 13.06.2022, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, Kap. 1 u. Kap. 2.1). [...]

Die vorstehenden Erkenntnisse reichen zur Überzeugung des Gerichts zwar nicht aus, um pauschal bzw. generell von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung (aller) ehemaligen Regierungsmitarbeiter, Mitarbeiter der internationalen Truppen oder vergleichbarer Personen auszugehen. Dabei lässt sich zwar das Ausmaß der Übergriffe auch angesichts der schwierigen Informationslage schwer einschätzen (vgl. Staatssekretariat für Migration der Schweiz v. 15.02.2022, Verfolgung durch die Taliban, S. 50). Wollten die Taliban allerdings jeden verfolgen, der bspw. in der Vergangenheit für die Regierung gearbeitet hat oder aus welchen Gründen auch immer "gegen sie war", wären hiervon hunderttausende Personen betroffen. Vor diesem Hintergrund müsste die Anzahl dokumentierter Vorfälle auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich offenbar zahlreiche Menschen aus Angst vor den neuen Machthabern nach wie vor versteckt halten (vgl. hierzu: ACCORD v. 13.06.2022, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, Kap. 2.1; ACCORD v. 01.03.2022, Aktuelle Lage & Überblick über relevante Akteure, S. 26; Staatssekretariat für Migration der Schweiz v. 15.02.2022, Verfolgung durch die Taliban, S. 11), deutlich höher sein als dies in den derzeit vorliegenden Erkenntnismitteln der Fall ist (vgl. EASO v. 07.01.2022, Country of Origin Information Report, S. 47). Hinzu kommt, dass sich die Führung der Taliban von den dokumentierten Übergriffen seit ihrer Machtübernahme mehrfach distanziert und auf das Vorgehen durch Einzeltäter verwiesen hat (vgl. Staatssekretariat für Migration der Schweiz v. 15.02.2022, Verfolgung durch die Taliban, S. 9). [...] Eine systematische Verfolgung dieser Personengruppe durch die neuen Machthaber lässt sich angesichts dieses Gesamtbildes auch nach der in den Erkenntnismitteln ganz überwiegend vertretenen Auffassung derzeit nicht feststellen (vgl. EASO v. 07.01.2022, Country of Origin Information Report, S. 46; ACCORD v. 01.03.2022, Aktuelle Lage & Überblick über relevante Akteure, S. 25 u. S. 30; Staatssekretariat für Migration der Schweiz v. 15.02.2022, Verfolgung durch die Taliban, S. 12; Anzeichen für eine "beginnende" systematische Verfolgung bestimmter Personen sieht derzeit wohl allein das Danish Home Office, vgl. UK Home Office v. 19.04.2022, Afghanistan: Fear of the Taliban, S. 38).

Zu berücksichtigen ist aber andererseits, dass bestimmte Personen(gruppen) durchaus einem gesteigerten Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind. Insoweit berichten die Erkenntnismittel übereinstimmend, dass das Ausmaß der Gefahr, Opfer von Übergriffen und Vergeltungsmaßnahmen zu werden, stark von dem ausgeübten Beruf bzw. der spezifischen Tätigkeit oder Position der betroffenen Person abzuhängen scheint. Während Beschäftigte im Gesundheits- und Bildungswesen nach der Machtübernahme weitgehend unbehelligt geblieben sind, sollen Personen in zentralen bzw. exponierten Positionen in Militär, Polizei und bei den Ermittlungsbehörden besonders gefährdet sein. Außerdem könne sich eine erhöhte Gefährdung daraus ergeben, dass jemand aktiv in die Bekämpfung oder Verurteilung der Taliban involviert war (vgl. ACCORD v. 13.06.2022, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, Kap. 2.2; UK Home Office v. 19.04.2022, Afghanistan: Fear of the Taliban, S. 34; Staatssekretariat für Migration der Schweiz v. 15.02.2022, Verfolgung durch die Taliban, S. 11 u. S. 14).

Diese Erkenntnislage zugrunde gelegt, ist das Gericht im vorliegenden Einzelfall zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger zwar nicht schon allein wegen einzelner Tätigkeiten für die frühere afghanische Regierung, sondern im Wege einer Gesamtschau seiner glaubhaft vorgetragenen und durch Vorlage zahlreicher aussagekräftiger Dokumente belegten Tätigkeiten insgesamt, wozu insbesondere auch eine mehrmonatige Übersetzertätigkeit für die US-Streitkräfte zählt, zu einem besonders gefährdeten Personenkreis gehört, bei dem derzeit von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit für Verfolgungshandlungen seitens der Taliban in Anknüpfung an seine politische Gesinnung ausgegangen werden kann. [...]

Den zahlreichen Nachweisen ist die Beklagte auch auf Vorhalt des Gerichts nicht nachgegangen und hat hinsichtlich der Übersetzertätigkeit für die US-Streitkräfte lediglich pauschal vorgetragen, es liege keine Ortskrafteigenschaft vor, da der Kläger "nicht für eine deutsche Behörde/Stelle tätig" gewesen sei. Die "Tätigkeit bei einem NATO-Partner" sei nicht ausreichend.

Das erkennende Gericht hält diese Annahme indes für nicht haltbar, da es für die Frage des Vorliegendes einer Ortskrafteigenschaft nicht allein darauf ankommen kann, ob die Ortskraft für die Bundesrepublik Deutschland (BRD) tätig gewesen ist. Die BRD hat sich nämlich ausdrücklich dazu entschieden, sich zur Wahrung des Friedens nicht nur einem, sondern gleich mehreren Systemen gegenseitiger kollektiver  Sicherheit einzuordnen (vgl. Art. 24 Abs. 3 GG). Hierunter fallen u.a. die Vereinten Nationen, die kollektive militärische Beistandspflicht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union füreinander (Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag) sowie die durch den NATO-Vertrag gegründete North Atlantic Treaty Organization (NATO). Im Zeitraum von 2003 bis 2014 waren die deutschen Streitkräfte als Teil der Sicherheits- und Wiederaufbaumission "International Security Assistance Force (ISAF)" unter NATO-Führung und anschließend bis zum Truppenabzug in 2021 als Teil der NATO-Mission "Resolute Support" durch Bundestagsmandate in Afghanistan eingesetzt. In diesem Zeitraum haben die vor Ort eingesetzten NATO-Streitkräfte auf allen Ebenen zusammengearbeitet und sich dabei (auch streitkräfteübergreifend) der Unterstützung durch Einheimische bedient. Solche "Unterstützer" werden von den Taliban als Verräter betrachtet, da sie aus deren Sicht feindlichen Kräften geholfen haben. In der Folge mag es zwar zunächst schon aus Zweckmäßigkeitserwägungen zielführend sein, dass sich primär der Staat um solche Ortskräfte kümmert, die ihm in erster Linie selbst behilflich waren. Nicht vertretbar ist nach Auffassung des Gerichts allerdings die Annahme der Beklagten, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung ehemaliger Ortskräfte der US-Streitkräfte sei aus Sicht der BRD unerheblich, denn damit würde die NATO als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit gänzlich in Frage gestellt. [...]