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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 07.10.2022 - 11 S 2848/21 (Asylmagazin 1-2/2023, S. 30 f.) - asyl.net: M31134
https://www.asyl.net/rsdb/m31134
Leitsatz:

Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG aus familiären Gründen:

1. Aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK kann sich ein rechtliches Abschiebungshindernis ergeben, sodass gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen zu erteilen ist. § 25 Abs. 5 AufenthG steht insofern eigenständig neben den die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen regelnden Vorschriften der §§ 27 ff. AufenthG. Ein Ausschlussverhältnis zwischen diesen Vorschriften besteht nicht.

2. Ein Antrag auf Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen ist regelmäßig so auszulegen, dass damit auch eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG aus familiären Gründen begehrt wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aufenthaltszweck, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Auslegung, Antrag, Aufenthaltstitel, Titelerteilungssperre,
Normen: AufenthG § 10 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

a) Das Ziel eines Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis - ohne den grundsätzlich kein Aufenthaltstitel erteilt wird (§ 81 Abs. 1 AufenthG) - wird durch die Aufenthaltszwecke und den Lebenssachverhalt, aus denen der Ausländer seinen Anspruch herleitet, bestimmt und begrenzt, weil das Aufenthaltsgesetz strikt zwischen den in den Abschnitten 3 bis 7 seines Kapitels 2 genannten Aufenthaltszwecken trennt [...].

Im vorliegenden Fall hat die anwaltlich vertretene Antragstellerin zwar in ihrem Antrag vom 13.07.2020 ausdrücklich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG beantragt. In dem ausgefüllten Antragsformular vom 11.01.2021 hat sie als Zweck des Aufenthalts „familiäre Gründe“ angegeben; „völkerrechtliche, humanitäre, politische Gründe“ hat die Antragstellerin nicht angekreuzt. Der Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis ist jedoch entsprechend den bürgerlich-rechtlichen Rechtsgrundsätzen (§§ 133, 157 BGB) auszulegen (Maor, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 34. Ed. 01.07.2022, § 7 AufenthG Rn. 6a); dabei ist gemäß § 133 BGB ausgehend vom objektiven Empfängerhorizont der wirkliche Wille des Antragstellers zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Im Hinblick auf diese Maßstäbe der Antragsauslegung lag die Prüfung des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG angesichts des vorgetragenen Lebenssachverhalts, wonach die Antragstellerin sorgeberechtigte Mutter und Hauptbezugsperson eines Kleinkindes mit deutscher Staatsangehörigkeit ist, weshalb sich inlandsbezogene Abschiebungshindernisse aufgrund der Beeinträchtigung der Grund- und Menschenrechte aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK im Fall der Abschiebung der Antragstellerin geradezu aufdrängen, nahe. Daher ist der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei diesem geschilderten Sachverhalt, auch dann, wenn er ausdrücklich aus familiären Gründen gestellt wurde, nach dem wirklichen Willen der Antragstellerin dahingehend auszulegen, dass mit den familiären Gründen lediglich der Beweggrund für die Antragstellung angegeben werden sollte und eine Beschränkung des Antrags auf § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG gerade nicht gewollt ist. [...]

b) Zwischen dem Aufenthaltstitel nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und demjenigen nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG besteht auch kein Ausschlussverhältnis, sodass auch dieser Gesichtspunkt dem Anspruch der Antragstellerin auf einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG nicht entgegensteht.

§ 25 Abs. 5 AufenthG steht als Regelung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis eigenständig neben den die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen regelnden Vorschriften nach dem sechsten Abschnitt des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes. Ein Ausschlussverhältnis zwischen diesen Vorschriften besteht nicht.

§ 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG ermöglicht die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Wege des Ermessens, wenn die Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist, mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht gerechnet werden kann und wenn der Ausländer unverschuldet (§ 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG) an der Ausreise gehindert ist. [...]

Auch aus dem verfassungs- und konventionsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) kann sich je nach Lage des Falles ein nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG relevantes rechtliches Ausreisehindernis ergeben. Allerdings führt das Bestehen familiärer Beziehungen eines Ausländers zu im Bundesgebiet wohnhaften Personen nicht per se zu einem solchen Ausreisehindernis. Vielmehr tragen die abgestuften gesetzlichen Regelungen über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach dem sechsten Abschnitt des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 6 GG und den menschenrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 8 EMRK im Grundsatz ausreichend Rechnung. Ist aber die Versagung eines Aufenthaltsrechts aus familiären Gründen nach §§ 27 ff. AufenthG unter Beachtung der Schutzpflichten aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK rechtmäßig, verstoßen grundsätzlich weder die damit einhergehende Ausreisepflicht noch deren zwangsweise Durchsetzung gegen Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK. In solchen Fällen scheidet eine Legalisierung des Aufenthalts aus familiären Gründen unter Rückgriff auf die Vorschriften über die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen im fünften Abschnitt des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes aus. Dies gilt auch für § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, da sich in Fällen der genannten Art aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK in der Regel auch keine Unmöglichkeit der Ausreise des betroffenen Ausländers ableiten lässt.

Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die in § 5 und in den §§ 27 ff. AufenthG vorgesehenen Regelungen zur Vermeidung unzulässiger Eingriffe in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK im konkreten Einzelfall ihre Schutzwirkungen nicht voll entfalten können. In Fällen dieser Art kann es verfassungs- und konventionsrechtlich geboten sein, § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG anzuwenden und das Bestehen eines rechtlichen Ausreisehindernisses anzunehmen (vgl. hierzu bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 10.03.2009 - 11 S 2990/08 - juris Rn. 29). Dies kommt insbesondere bei Ausländern in Betracht, die im Bundesgebiet zunächst erfolglos ein Asylverfahren betrieben haben und sich später mit Blick auf familiäre Bande zu in Deutschland lebenden Personen um einen Aufenthaltstitel bemühen. Denn hier beschränkt § 10 Abs. 3 AufenthG die Anwendung unter anderem solcher Vorschriften, die auch dem Schutz der Familie aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK dienen. [...]

c) Danach hat das Verwaltungsgericht im angegriffenen Beschluss zu Recht angenommen, dass im Fall der Antragstellerin aufgrund ihrer verfassungs- und konventionsrechtlich geschützten Beziehung zu ihrer in Deutschland lebenden Tochter ein nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG relevantes rechtliches Ausreisehindernis besteht. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass der Antragstellerin trotz dieser Beziehung nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts keine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erteilt werden kann. Denn die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis kann nur deshalb nicht erfolgen, weil im Fall der Antragstellerin § 10 Abs. 3 Sätze 1 und 3 AufenthG die Anwendung von Vorschriften ausschließt, die auch dem Zweck dienen, die Schutzwirkungen aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK aufenthaltsrechtlich zur vollen Entfaltung zu bringen. [...]