OVG Thüringen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Thüringen, Urteil vom 16.06.2022 - 3 KO 178/21 - asyl.net: M31131
https://www.asyl.net/rsdb/m31131
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung für syrische Person wegen Militärdienstentzug oder illegaler Ausreise:

"Es liegen keine Anhaltspunkte (mehr) vor, aus denen sich für nach Syrien zurückkehrende Militärdienstpflichtige und Reservisten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine begründete Furcht vor Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG ergibt, weil sie sich durch illegale Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben (sog. einfacher Militärdienstentzug). Ein Betroffener hat insbesondere nicht mit Verfolgungshandlungen aufgrund der Zuschreibung eines Verfolgungsgrundes nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs. 1 AsylG durch das syrische Regime zu rechnen (fehlender Nexus).

Eine Furcht vor Verfolgung wegen (illegaler) Ausreise, Auslandsaufenthalts, Asylantrags im westlichen Ausland allein ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht begründet. Die bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien zu gewärtigen Sicherheitskontrollen und dabei in Frage stehenden Verfolgungshandlungen knüpfen nicht an die Zuschreibung einer regimefeindlichen Gesinnung (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG: politische Überzeugung) an.

Eine Rückkehrgefährdung allein wegen der Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen oder zeitweilig von "Daesh" bzw. dem sog. "Islamischen Staat" kontrollierten Gebiet (hier: Gouvernement Dayr Az Zawr) ist nicht festzustellen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Syrien, Wehrdienstentziehung, Militärdienst, Wehrdienstverweigerung, illegale Ausreise, unerlaubte Ausreise, Auslandsaufenthalt, Asylantrag,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

2. Die Klage ist allerdings unbegründet, da dem Kläger über den ihm zuerkannten subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG hinaus nicht auch die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen ist. Insoweit ist die (Verpflichtungs-)Klage abzuweisen und das Urteil des Verwaltungsgerichts entsprechend abzuändern.

Dem liegt eine Neubewertung der Situation eines in Syrien militärdienstpflichtigen Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden bei hypothetischer Rückkehr in sein Heimatland zugrunde, die der Senat aufgrund einer geänderten Erkenntnislage für den Fall vorgenommen hat, dass der Schutzsuchende sich seiner Militärdienstpflicht durch (illegale) Flucht ins Ausland entzogen hat (vgl. zur bisherigen Senatsrechtsprechung: Urteile vom 4. Juni 2018 - 3 KO 155/18 -, vom 4. Juni 2018 - 3 KO 163/18 - und vom 5. Juni 2018 - 3 KO 168/18 - jeweils juris). [...]

b) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und bei Berücksichtigung aller hier zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) relevanten Umstände, wie sie sich nach vollständiger Ausschöpfung der zur Aufklärung der Gegebenheiten im Herkunftsstaat verfügbaren Erkenntnisquellen und aus den vom Kläger vorgelegten Unterlagen einerseits erschließen, sowie andererseits aus der Würdigung der Darlegungen des Klägers zu seinen Lebensverhältnissen, den Ereignissen bzw. Umständen vor und nach seinen Ausreisen aus Syrien und insbesondere dem Ausreise- und Fluchtgeschehen resultieren, liegen - selbst in Anbetracht des (Unrechts-)Charakters des syrischen Staates - zur Überzeugung des Senats keine Anhaltspunkte (mehr) vor, aus denen sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine begründete Furcht vor Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG ergibt und ihm daher, über den bereits gewährten subsidiären Schutz hinaus, der weiterreichende Flüchtlingsschutz zuzusprechen ist.

Danach ist der Kläger weder vorverfolgt aus Syrien ausgereist (hierzu: II. Ziff. 2. lit. b), bb)), noch droht ihm bei (hypothetischer) Rückkehr und Einreise über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Grenzkontrollstelle mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen Nachfluchtgründen (hierzu: II. Ziff. 2. lit. b), cc)). [...]

bb) Unter Berücksichtigung der vorstehend aufgeführten Verhältnisse in Syrien ergibt sich aus den Darlegungen des Klägers zum Ausreise- und Fluchtgeschehen keine Vorverfolgung. Er ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist, so dass ihm auch die Beweiserleichterungen des Art. 4 Abs. 4 RiLi 2011/95/EU nicht zu Gute kommen.

(1) Zur Überzeugung des Senats ist eine Vorverfolgung insbesondere nicht im Hinblick auf den Umstand gegeben, wonach sich der Kläger nach seinem Vortrag dem Militärdienst durch (illegale) Flucht ins Ausland entzogen hat.

(a) Der Kläger hat sich nicht in "qualifizierter Weise" dem Militärdienst in Syrien entzogen.

Der Kläger war allerdings - entgegen der in der Begründung des Bescheides vom 03.08.2020 - ...-475 - zum Ausdruck gebrachten Auffassung des BAMF, vgl. S. 120 BA) - bereits bei seiner erstmaligen Ausreise älter als 18 und jünger als 42 Jahre und damit militärdienstpflichtig. [...]

Gleichwohl liegt bei Zugrundelegung aller hier maßgeblichen Umstände, wie sie sich insbesondere auch aus dem Vorbringen des Klägers ergeben, vorliegend jedenfalls weder ein qualifizierter - bereits eine, mit militärischen Aufgaben verbundene, Eingliederung in das militärische System voraussetzender - Militärdienstentzug noch ein solcher vor, der eine absolute oder selektive Militärdienst-Verweigerung i. e. S. - also eine solche, die auf einem Entschluss beruht, der einer festen, bereits im Heimatland erkennbar zum Ausdruck gebrachten Grundhaltung entspricht - darstellen würde. Es kann lediglich festgestellt werden, dass er sich dem Militärdienst, zu dem er verpflichtet war, (bloß) durch illegale Ausreise aus Syrien, mithin unerlaubt entzogen hat.

Der Kläger hat in Syrien keinen Militärdienst geleistet und war auch in keiner Weise ins syrische Militär eingegliedert oder mit militärischen Aufgaben betraut. Dementsprechend ist von ihm weder eine Desertion noch ein Überlaufen zum Feind oder ein - in Bezug auf einen Militärdienstentzug - ähnlich qualifiziertes Verhalten geltend gemacht worden.

Ein Militärdienstentzug aufgrund eines im Heimatland nach außen erkennbar gemachten Entschlusses zu einer absoluten oder selektiven, aus religiös, moralisch, ethisch, humanitär oder ähnlich motivierten Grundsätzen und Gewissensgründen sowie auch tief empfundenen Überzeugungen entspringenden [...] Verweigerung des Militärdienstes i. e. S. ist ebenfalls nicht geltend gemacht. Der Kläger hat schon nicht dezidiert vorgetragen, dass sein Entschluss zum unerlaubten Militärdienstentzug auf entsprechenden Grundhaltungen beruhte. Jedenfalls wird vom Kläger nicht geltend gemacht, dass er diesen Entschluss unter Bezugnahme auf entsprechend zugrundeliegende Grundhaltungen nach außen kundgetan habe, solange und soweit er sich vor seiner letztmaligen Ausreise noch in seinem Heimatland aufgehalten hat.

(b) Die vom Kläger vorgetragene Art und Weise des Militärdienstentzugs führt auch im Übrigen nicht auf die Feststellung einer Vorverfolgung. Ein solcher - einfacher - Militärdienstentzug könnte zwar grundsätzlich als Militärdienstverweigerung i. w. S. verstanden werden und damit gleichwohl Anknüpfungspunkt einer Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 und 2 sowie insbesondere gemäß Nrn. 1., 2., 3., 4. und 6. AsylG sein. Dies ergibt sich bereits aus der entsprechenden Anwendung von § 3b Abs. 1 Nr. 5 2. HS AsylG, nach der es nicht erforderlich ist, dass ein Antragsteller auf Grund einer entsprechenden Grundhaltung oder Überzeugung vor Ausreise tätig geworden ist. [...]

Dessen ungeachtet kann der Senat nicht feststellen, dass der Kläger vor seiner Flucht aus Syrien eine Strafverfolgung oder Bestrafung - insbesondere auch nicht wegen Verweigerung des Militärdienstes - erlitten hat oder von einer solchen unmittelbar bedroht war. Insoweit kann hier auch offen bleiben, ob er den Militärdienst auch i. S. d. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG tatsächlich verweigert hat (vgl. EuGH, Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - a. a. O. Rn. 31).

Zunächst wird vom Kläger im Rahmen seiner Darlegungen zum gesamten Flucht- und Ausreisegeschehen eine erlittene Strafverfolgung oder Bestrafung nicht geschildert oder behauptet. [...]

Unter Zugrundelegung des klägerischen Vortrags ergeben sich im Übrigen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus Sicht des syrischen Staates schon vor der jeweiligen Ausreise in irgendeiner Form als Militärdienstentzieher angesehen werden konnte. [...]

cc) Aus den Darlegungen des Klägers zum gesamten Flucht- und Ausreisegeschehen ergeben sich keine flüchtlingsschutzrelevanten Nachfluchtgründe, so dass er auch insoweit keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat.

1) Es ist - unter Berücksichtigung der o. g. Maßstäbe - zur Überzeugung des Senats bereits nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger mit Verfolgungshandlungen deshalb zu rechnen hat, weil das syrische Regime ihm aufgrund seines diesbezüglichen Verhaltens Merkmale eines Verfolgungsgrundes nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs. 1 AsylG zuschreibt (fehlender Nexus).

Die insoweit bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien - etwa bei Einreise über den Flughafen Damaskus - und den dabei zu gewärtigen Sicherheitskontrollen [...] in Frage stehenden Verfolgungshandlungen knüpfen weder an die Zuschreibung einer regimefeindlichen Gesinnung [...] noch einer entsprechenden religiösen Überzeugung [...] und auch nicht an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe [...] an [...].

(a) Die bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien zu gewärtigen Sicherheitskontrollen und dabei in Frage stehenden Verfolgungshandlungen knüpfen nicht an die Zuschreibung einer regimefeindlichen Gesinnung (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG: politische Überzeugung) an.

(aa) Insoweit ist beim Kläger eine Furcht vor Verfolgung wegen (illegaler) Ausreise, Auslandsaufenthalts, Asylantrags im westlichen Ausland allein mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht begründet.

Der Senat hat die tatsächliche Situation in Syrien dahin bewertet, dass aus dem (westlichen) Ausland zurückkehrenden syrischen, um Asyl- bzw. Flüchtlingsschutz nachsuchenden Betroffenen, auch wenn sie Syrien illegal verlassen haben, keine Verfolgung droht. [...]

(bb) Zur Überzeugung des Senats ist es jenseits dessen ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitskräfte den Kläger im Falle einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien im Hinblick darauf flüchtlingsschutzrelevant behandeln werden, dass er aus dem Dorf ... im Gouvernement Dayr Az Zawr, ..., stammt und Daesh bzw. IS in Gebieten dieses Gouvernements zeitweise die Kontrolle hatte. [...]

(cc) Jenseits dessen kann zur Überzeugung des Senats im Ergebnis einer Gesamtbewertung der objektiven Gegebenheiten, wie sie sich nach den in das Verfahren einbezogenen Erkenntnisquellen im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung darstellen, auch nicht (mehr) gefolgert werden, dass in Bezug auf - einfache - Militärdienstentzieher die Maßnahmen, welche diesen bei (hypothetischer) Rückkehr nach Syrien drohen, ihrer objektiven Zielgerichtetheit nach an ein flüchtlingsschutzrechtlich relevantes Merkmal gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG anknüpfen. Dies gilt für entsprechende Militärdienstpflichtige unabhängig davon, ob sie den Grundmilitärdienst noch gar nicht geleistet haben oder als Reservisten betroffen sind. [...]

(β) Eine flächendeckende oder systematische Verfolgung einfacher Militärdienstentzieher wegen einer ihnen zumindest zugeschriebenen politischen Überzeugung bzw. eine entsprechende, über die Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht hinausgehende, generelle Sanktionierung ist derzeit in Syrien nicht (mehr) feststellbar. [...]