Flüchtlingsanerkennung für neu verheiratete Frau und ihre Tochter aus dem Nordirak:
1. Einer Frau, die sich gegen den Willen ihres Ehemanns von diesem getrennt und erneut geheiratet hat und deshalb sowohl vom Stamm ihres Ex-Mannes als auch ihrem eigenen Stamm bedroht und gesucht wird, droht im Irak Verfolgung. Es besteht weder eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative für sie und ihre Familie, noch gibt es Schutzakteure gemäß § 3d Abs. 1 AsylG, die willens und in der Lage wären, Schutz zu bieten. Auch der Tochter, der Zwangsverheiratung durch die Familienangehörigen droht, und dem Sohn, dem Vergeltung dafür droht, bei seiner Mutter geblieben zu sein, droht im Irak Verfolgung.
2. Von ihrer Umgebung als "entehrt" oder "ehrlos" wahrgenommene Frauen stellen eine soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG dar. Auch Frauen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein, so dass sie eine soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen.
3. Personen, die im Irak nicht als konform mit den lokalen sozialen und kulturellen Normen angesehen werden, weil sie ein "inakzeptables" Verhalten an den Tag legen, sind Drohungen und Angriffen von Einzelpersonen sowie von Milizen ausgesetzt.
(Leitsätze der Redaktion)
Siehe auch:
Ursula Damson-Asadollah, »Westliche Prägung« als Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, in: Asylmagazin 5/2020, S. 150
Susanne Giesler und Sonja Hoffmeister, Anerkennung frauenspezifischer Verfolgung, in: Asylmagazin 12/2019, S. 401
4a) Das Gericht ist zunächst wegen den nachfolgenden Gründen davon überzeugt, dass den Klägerinnen zu 1) und zu 2) - aber auch dem Kläger zu 3) - bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende Behandlung oder gar der Tod drohen.
Für Klägerin zu 1) begründet sich diese insbesondere durch ihre Stellung als von ihrem Mann geschiedene Frau. Die Kläger haben sowohl im Rahmen ihrer Anhörung vor dem BAMF als auch in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass der Stamm des Ehemannes der Klägerin zu 1), aber auch deren eigener Stamm beharrlich nach den Klägern sucht. Dabei schildert die Klägerin zu 1) anhaltende und ersthafte Bedrohungen ihr gegenüber sowie der Klägerin zu 2) und auch gegenüber dem Kläger zu 3). Diese Angaben fügen sich auch nahtlos in die unabhängigen Schilderungen der Klägerin zu 2) und des Klägers zu 3). Letzterer legte dar, dass ihm ebenfalls erhebliche Repressalien drohen wegen der Rolle als Trauzeuge, die er für seine Mutter eingenommen hatte. Der Klägerin zu 2) droht im Irak die Zwangsverheiratung. Die Klägerin zu 1) legte ferner dar, inwiefern ihr Ex-Ehemann die Scheidung als Ehrbeschmutzung sieht und sie dadurch nicht nur von seiner und ihrer Familie verstoßen wurde, sondern der Stamm die Ehrverletzung auch durch ihr gegenüber ausgeübte Gewalt kompensieren will. Die Klägerin zu 1) beruft sich für damit den Fall einer hypothetischen Rückkehr in den Irak im Wesentlichen auf ihr drohende Verfolgungshandlungen durch ihren früheren Ehemann und/oder ihre Familie wegen Ehr- und Brauchtumsverletzungen (vgl. hierzu u.a. VG Oldenburg, Urteil vom 26. Januar 2022, Az.: 15 A 1885/21, m.w.N. zitiert nach juris). Gleiches gilt insofern für die Klägerin zu 2), welche mit ihrem Verbleib bei der Mutter und mit der Auslebung westlicher Gepflogenheiten [...] ebenfalls nach Ansicht des Stammes die Ehre gekränkt hat. Die der Klägerin zu 2) bei einer Rückkehr in ihre Heimat drohende Zwangsverheiratung stellt für sich genommen auch eine asylrechtlich relevante Verfolgungshandlungen gem. §§ 3, 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 6 AsylG dar (vgl. Kluth in: BeckOK Ausländerrecht, Stand: Januar 2022, AsylG § 4 Rn. 14 ff.). Ebenfalls besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer erniedrigenden Behandlung für den Kläger zu 3). Wegen seines Verstoßes gegen die traditionellen Normen durch die Stellung als Trauzeuge hat ihn der Stamm der Familie verstoßen. Durch den Verbleib bei seiner Mutter entgegen den statuierten Normen des Islams (s.o.) und das im höchsten Maße für seinen Vater inakzeptable Verhalten ist er ebenfalls als Ehrenloser gebrandmarkt. Er trägt logisch und detailreich vor, woher die gesamte Familie Kenntnis von seinen Handlungen hat und inwiefern ihm ebenfalls Gewalt und Angriffe drohen. [...]
Die Ausführungen der Kläger decken sich schließlich auch mit den Informationen des Gerichts, die sich den vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen entnehmen lassen. Sowohl Männer als auch Frauen stehen unter Druck, sich an konservative Normen zu halten, was das persönliche Erscheinungsbild betrifft (vgl. AA vom 25. Oktober 2021, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, S. 142). Personen, die als nicht konform mit den lokalen sozialen und kulturellen Normen angesehen werden, weil sie ein ,,inakzeptables" Verhalten an den Tag legen, sind Drohungen und Angriffen von Einzelpersonen aus der Gesellschaft sowie von Milizen ausgesetzt (vgl. AA vom 25. Oktober 2021, a.a.O.). Volksmobilisierungskräfte und Stammesmitglieder haben es auf Personen abgesehen, die Anzeichen für eine Abweichung von ihrer Auslegung der angezeigten Normen zeigen (vgl. AA vom 25. Oktober 2021, a.a.O.). Dies gilt im Besonderen für schiitische Klans. Gewalt gegen Kinder bleibt ebenfalls ein großes Problem (vgl. U.S. Departrnent of State - Usdos - vom 30. März 2021, Iraq 2020 Human Rights Report, S. 2 ff.). Nach Angaben internationaler und nationaler NGOs nahm die geschlechtsspezifische Gewalt im häuslichen und öffentlichen Bereich zu. Im März 2021 schätzte eine internationale Frauenrechtsorganisation, dass die geschlechtsspezifische Gewalt während des Corona-Lockdowns im gesamten Irak um mindestens 75 Prozent zugenommen hat (vgl. Amnesty International - AI - Report vom 29. März 2022, Irak 2021). [...]"
Die Klägerin zu 1) unterfällt zunächst nicht allein deswegen einer sozialen Gruppe, weil sie eine allein lebende Frau ist. Die Einzelrichterin ist nicht der Auffassung, dass alleinstehende Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak per se bereits als eine soziale Gruppe im Sinne des § 3b Nr. 4 AsylG anzusehen sind, die von Verfolgungshandlungen bedroht ist [...]
Jedoch kann für die Klägerin zu 1) eine geschlechtsspezifische Verfolgung durch das Hinzutreten eines besonderen Umstandes festgestellt werden. Als aus Sicht ihres früheren Ehemannes, ihrer Familienangehörigen sowie auch der Mehrheitsgesellschaft "entehrte" bzw. "ehrlose" Frau ist die Klägerin zu 1) Angehörige einer sozialen Gruppe i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, bei der die Verfolgung allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 30. Juli 2021, Az.: 2 A 275/18, Rn. 36 m.w.N. - zitiert nach juris.). Dabei meint der Begriff "Geschlecht" nicht die rein biologische Zuordnung, sondern stellt auf die durch gesellschaftlichen Regeln bestimmte soziale Rolle ab, die den Angehörigen des einen oder anderen Geschlechts zukommt. Frauen die sich nicht der von der für sie in ihrem Heimatland maßgeblichen Gesellschaft durch Tradition und gesellschaftliche Verhältnisse vorgezeichneten Diskriminierung und Entrechtung unterwerfen, weisen eine hinreichend abgegrenzte Identität als Gruppenmitglieder im Verhältnis zu der sie umgebenden Gesellschaft im Sinne von Art. 10 Abs. 2d, 2. Spiegelstrich der Richtlinie 2011/95/EU auf. [...] Der Begriff der "ehrlosen Frau" ist im Irak mit klaren Zuschreibungen verbunden und in diese Kategorie können Frauen durch jedes denkbare nicht rollenkonforme Verhalten hineinrutschen - wie vorliegend die Klägerin zu 1 ). Insbesondere sind Frauen nicht wie Männer in der Lage, ihre "Ehre" durch die Erfüllung traditioneller "männlicher" Tugenden, wie Großzügigkeit, Gastfreundschaft, Selbstbewusstsein, Ehrlichkeit, Integrität, Schutz von Frauen und Schutz von Schwachen, wiederzuerlangen, da ihnen als bloßes "Objekt" der "Ehrverletzung" nur die passive Hinnahme von Bestrafungen bleibt (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 30. Juli 2021, Az.: 2 A 275/18, Rn. 56 - zitiert nach juris). Dieser Gruppe von "entehrten" bzw. ,,ehrlosen" Frauen ist die Klägerin zu 1) zugehörig, da sie durch die Trennung und Scheidung von ihrem früheren Ehemann, der nicht in die Scheidung eingewilligt hat und das Eingehen einer neuen, nicht erlaubten Ehe gegen die traditionell und patriarchisch geprägten Brauch und Wertevorstellungen verstößt. [...] Es gibt keine effektiven Unterkünfte für Frauen im Irak, und Frauen, die ihre Häuser aufgrund von Missbrauch verlassen, sind verletzlich und können am Ende in Gefängnissen Zuflucht suchen oder zur Prostitution greifen. [...] Auch haben Frauen aufgrund der diskriminierenden Haltung von Polizei- und Regierungsbeamten gegenüber Frauen und des mangelnden Bewusstseins für ihre Rechte besondere Schwierigkeiten beim Zugang zur Justiz. [...]
Frauen, die sich der bestehenden rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der Frauen im Irak aufgrund ihrer westlichen Prägung entgegenstellen, werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der irakischen Gesellschaft als andersartig betrachtet und können einer beachtlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein (vgl. VG Hannover, Urteil vom 02. Februar 2022, Az.: 12 A 12106/17, Rn. 25 - zitiert nach juris ). Deswegen bilden irakische Frauen eine bestimmte soziale Gruppe, sofern sie - beispielsweise infolge eines längeren Aufenthalts in Europa - in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. [...]
Nach den vorliegenden Erkenntnissen (vgl. BFA vom 17. März 2020, a.a.O., S. 96-108; VG Hannover, Urteil vom 02. Februar 2022, Az.: 12 A 12106/17, Rn. 25-27 m.w.N. -zitiert nach juris) sind Frauen im Irak weitreichender Diskriminierung ausgesetzt. Konservative, patriarchalische soziale Normen und die Dominanz religiöser Werte in den verschiedenen Gemeinschaften im Irak verhindern die effektive und gleichberechtigte Teilnahme von Frauen am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben. Frauen, die sich unverschleiert oder in westlicher Kleidung oder ohne männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit gezeigt haben, laufen Gefahr, auf offener Straße gekidnappt und kahl rasiert zu werden als Warnung, bei erneuter Zuwiderhandlung gegen islamische Bekleidungs- und Verhaltensvorschriften ermordet zu werden (vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08. Juni 2017, Az.: 8 a 1971/16.A m.w.N. - zitiert nach juris). Insofern ist davon auszugehen, dass Frauen, die sich den traditionellen Kleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften nicht anpassten, unabhängig von ihrem familiären Status einem beachtlichen Risiko unterlägen, Opfer schwerwiegender Eingriffe in ihre physische Integrität zu werden. Gegen solche Übergriffe und Einschüchterungen sei für Frauen derzeit im Irak weder effektiver staatlicher noch subsidiärer Schutz durch Angehörige verfügbar (vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08. Juni 2017, a.a.O). Die einzige Möglichkeit, den Bedrohungen oder der Anwendung von Gewalt wegen der Nichtbeachtung fundamentalistisch geprägter, diskriminierender Verhaltensregeln zu entgehen, besteht in der völligen Unterwerfung der betroffenen Frau unter die restriktiven Verhaltensstandards. [...]