VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 28.09.2022 - 7 K 1706/22.TR - asyl.net: M31116
https://www.asyl.net/rsdb/m31116
Leitsatz:

Keine systemischen Mängel in Asylsystem oder Aufnahmebedingungen in Ungarn:

1. Dublin-Rückkehrende haben in Ungarn Zugang zu einem ordnungsgemäßen Asylverfahren. Auch die Aufnahmebedingungen begründen keine systemischen Mängel.

2. Allerdings ist die Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG aufzuheben. Indem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die ungarischen Behörden zu einer individuellen Zusicherung bezüglich ordnungsgemäßem Asylverfahren und Unterbringung aufgefordert hat, hat es sich derart selbst gebunden, dass eine Abschiebung erst möglich ist, sobald eine entsprechende Zusicherung vorliegt. Da eine solche zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht vorlag, war der Bescheid insofern rechtswidrig.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG München, Beschluss vom 11.08.2022 – M 30 S 22.50354 - bayern.recht)

Schlagwörter: Ungarn, Dublinverfahren, Zusicherung, Selbstbindung der Verwaltung, systemische Mängel,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

3. Des Weiteren liegen keine Gründe i.S.v. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-Verordnung vor, die der Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung der klägerischen Asylanträge entgegenstehen. Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-Verordnung kann es sich als unmöglich erweisen, einen Asylantragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - EU-GrCh - mit sich bringen. [...]

Anhaltspunkte für derartige Schwachstellen, aufgrund derer die aus dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens resultierende Vermutung grundrechtskonformen Verhaltens Ungarns widerlegt wäre, vermag die Kammer auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der aktuellen Erkenntnismittel auch unter Berücksichtigung der besonderen Situation der Kläger (dazu c.) weder während des Asylverfahrens (dazu a.) noch nach dessen Abschluss bei einer zu unterstellenden Gewährung internationalen Schutzes (dazu b.) festzustellen [...].

aa. Die Situation von Dublin-Rückkehrenden in Ungarn richtet sich nach dem Stand ihres Asylverfahrens. Personen, die - wie die Kläger im vorliegenden Verfahren - bislang keinen Asylantrag in Ungarn gestellt haben, werden wie Asyl-Erstantragssteller behandelt [...].

Dublin-Rückkehrende haben sodann Zugang zum ungarischen Asylverfahren. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des derzeit in Ungarn geltenden Ausnahmezustands (sog. "Krisensituation wegen Massenmigration"), der im März 2016 erstmalig für das gesamte Staatsgebiet Ungarns ausgerufen und seither immer wieder verlängert wurde [...].

Von diesen Grundsätzen gibt es allerdings Ausnahmen für bereits subsidiär Schutzberechtigte, welche sich in Ungarn aufhalten, deren Familienmitglieder und für Personen, welche staatlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt sind, solange sie nicht illegal durch Ungarn gereist sind (Länderinformationsblatt, S. 3; AIDA a.a.O., S. 21). Das Gericht hegt keinen Zweifel daran, dass die Kläger als Dublin-Rückkehrende der letztgenannten Personengruppe unterfallen, sodass es ihnen möglich sein wird, in Ungarn einen Asylantrag zu stellen (ebenso: VG Hamburg, Beschluss vom 18. März 2022, a.a.O.; VG Regensburg, Beschluss vom 7. März 2022 - RN 13 S 22.50079 -, n.v.). Denn ausweislich einer klarstellenden Mitteilung der NDGAP legen die ungarischen Behörden den genannten Ausnahmenkatalog so aus und wenden ihn in der Praxis so an, dass Dublin-Rückkehrende nach ihrer Ankunft in Ungarn erklären müssen, ob sie ihren im ersuchenden Mitgliedstaat gestellten Asylantrag aufrechterhalten möchten. Ist dies der Fall, wird das Asylverfahren eingeleitet [...].

Der entgegenstehenden Auswertung der Erkenntnismittel durch andere Verwaltungsgerichte (vgl. etwa VG Aachen, Beschluss vom 1. September 2022 a.a.O., Rn. 84; VG München, Beschluss vom 11. August 2022 - M 30 S 22.50354 -, Rn. 28, juris) vermag sich die Kammer nicht anzuschließen. [...]

Dublin-Rückkehrenden droht auch nicht aus anderen Gründen eine gegen Art. 33 GFK verstoßende, ungeprüfte Abschiebung aus dem ungarischen Staatsgebiet (sog. Nichtzurückweisungsprinzip bzw. non-refoulement-Gebot). Die Kammer verkennt insoweit nicht, dass die ungarischen Sicherheitsbehörden nach den Regelungen des weiterhin aufrechten Ausnahmezustands Migranten ohne gültiges Visum auch dann, wenn sie einen Asylantrag stellen, ohne formelles Verfahren und insbesondere ohne Rechtsschutzmöglichkeiten auf die andere Seit des Grenzzauns zu Serbien zurückschieben können (Länderinformationsblatt, S. 3, 5). Diese Möglichkeit besteht im gesamten Staatsgebiet Ungarns und unabhängig davon, ob die betroffene Person über Serbien nach Ungarn eingereist ist (AIDA a.a.O., S. 13; US Department of State a.a.O., S. 25). Auch wenn es auf dieser Grundlage zu zahlreichen sog. Push-backs nach Serbien gekommen ist und Ungarn diese Praxis weiterhin fortsetzt (Amnesty International, Sektion Deutschland, Ungarn 2021 - Amnesty Report, Stand 29. März 2022, MILo; AIDA a.a.O., S. 13 f., 20), ergibt sich aus den oben dargelegten Erkenntnissen, dass Dublin-Rückkehrende in Ungarn unmittelbar nach ihrer Ankunft Asylanträge stellen können und daher von dieser Problematik erkennbar nicht betroffen sind.

Aus den vorliegenden Erkenntnismitteln folgt des Weiteren, dass Asylanträge in Ungarn durch die NDGAP ordnungsgemäß geprüft werden. [...]

Ferner ist nicht ersichtlich, dass Dublin-Rückkehrenden in Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine systematische oder sonst menschenrechtswidrige Inhaftierung droht (a.A.: VG Aachen, Beschluss vom 1. September 2022 a.a.O., Rn. 96 ff.; VG Regensburg, Beschluss vom 10. Juni 2022 a.a.O.). [...]

bb. Auch mit Blick auf die Aufnahmebedingungen droht Dublin-Rückkehrenden in Ungarn keine Situation extremer materieller Not.

Nach dem ungarischen Asylgesetz haben Asyl-Erstantragsteller während ihres Asylverfahrens Zugang zu Unterbringung und medizinischer Versorgung, solange sie mittellos sind. Ist ein Asylbewerber nicht mittellos, kann die Asylbehörde anordnen, dass er sich an den Kosten für die materielle und medizinische Versorgung beteiligen muss. Basis dafür ist eine finanzielle Eigendeklaration der Antragsteller (Länderinformationsblatt, S. 8).

Während des derzeitigen Ausnahmezustands ist die materielle Versorgung Schutzsuchender auf Unterbringung, Verpflegung (drei Mahlzeiten am Tag oder Essensgeld, Hygieneartikel oder entsprechenden Geldersatz) und medizinische Versorgung in den Unterbringungszentren beschränkt. [...]

b. Für den Fall einer zu unterstellenden Zuerkennung internationalen Schutzes in Ungarn nach Durchführung des Asylverfahrens [...] droht den Klägern ebenfalls keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S. v. Art. 4 EU-GrCh bzw. Art. 3 EMRK. [...]