OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 17.10.2022 - 2 A 212/22 (Asylmagazin 6/2023, S. 227 f.) - asyl.net: M31100
https://www.asyl.net/rsdb/m31100
Leitsatz:

Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft trotz richtiger Angaben im Asylverfahren:

1. Die speziellen Regelungen des Asylgesetzes zur Rücknahme von Asylberechtigung und Flüchtlingseigenschaft gemäß § 73 Abs. 2 AsylG schließen einen Rückgriff des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge [BAMF] auf die allgemeinen Regelungen zur Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte gemäß § 48 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 VwVfG nicht aus.

2. Gemäß § 48 Abs. 4 VwVfG ist die Rücknahme zum Schutz des Vertrauens der betroffenen Person nur innerhalb eines Jahres ab dem Zeitpunkt zulässig, in dem die Behörde von Tatsachen Kenntnis erlangt, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes rechtfertigen.

3. Nach Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der maßgebliche Zeitpunkt für den Beginn dieser Frist nicht die Kenntnis der Behörde über die die Rechtswidrigkeit begründenden Tatsachen, sondern die positive Erkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts.

4. Selbst wenn eine Person im Asylverfahren richtige Angaben gemacht hat und ihr daraufhin fälschlicherweise die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird (Familienschutz gemäß § 26 Abs. 5 AsylG, obwohl die Ehe im Herkunftsland noch nicht bestand), beginnt die Vertrauensschutzfrist deshalb erst in dem Moment zu laufen, in dem die Behörde merkt, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig war.

5. Ein trotz richtiger Angaben und in Kenntnis aller wesentlicher Umstände rechtswidrigerweise im Mai 2017 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft kann noch im Mai 2021 rechtmäßig zurückgenommen werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Rücknahme, Vertrauensschutz, Familienschutz,
Normen: VwVfG § 48 Abs. 1 S. 2, VwVfG § 48 Abs. 4, AsylG § 73 Abs. 2 S. 2, AsylG § 73 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

3 Nachdem der Ehefrau im April 2016 in dem damals bei syrischen Staatsangehörigen praktizierten "Fragebogenverfahren" die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuerkannt worden war (Aktenzeichen: ...-475), wurde der Kläger im Mai 2017 als Ehepartner gemäß § 26 Abs. 5 Satz 2 AsylG ebenfalls als Flüchtling anerkannt (vgl. dazu den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4.5.2017 – ...–163 –).

4 Im Mai 2021 nahm die Beklagte nach vorheriger Anhörung des Klägers diese Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft zurück, lehnte die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab und verneinte gleichzeitig das Vorliegen nationaler Abschiebungsverbote in seinem Fall [...]. In der Begründung heißt es unter anderem, die Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz als Familienangehöriger sei rechtswidrig erfolgt. Die Ehe des Klägers mit seiner syrischen Ehefrau habe nicht schon in deren Herkunftsstaat Syrien bestanden. Die Ehe sei, wie der Kläger in seiner Anhörung selbst vorgetragen habe, erst nach deren Flucht aus Syrien im Jahr 2014 islamisch und im Jahr 2015 standesamtlich in der Türkei geschlossen worden. [...]

8 Dem nach § 78 Abs. 2 Satz 1 AsylG statthaften Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 24.8.2022 – 6 K 621/21 –, mit dem seine Klage auf Aufhebung des Rücknahmebescheids vom 4.5.2021, hilfsweise auf Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung des subsidiären Flüchtlingsschutzes (§ 4 AsylG) beziehungsweise auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und 7 AufenthG), abgewiesen wurde, kann nicht entsprochen werden. [...]

10 Entgegen der Auffassung des Klägers führt die ergänzende Anwendung des § 48 VwVfG in diesen Fallkonstellationen auch nicht dazu, dass der § 73 Abs. 2 AsylG, der unrichtige oder unvollständige Angaben im Asylverfahren besonders sanktionieren soll, "ausgehebelt" wird oder "unsinnig oder unnötig" wäre. Der § 48 Abs. 1 VwVfG sieht anders als der § 73 Abs. 2 AsylG keine zwingende Rücknahme des als rechtswidrig erkannten Verwaltungsakts vor, sondern stellt sie lediglich in das pflichtgemäße Ermessen der Behörde, hier des Bundesamts, und verpflichtet diese – in den Grenzen des § 114 VwGO gerichtlich überprüfbar – in dem Rahmen zur Berücksichtigung fallbezogen relevanter Umstände, auch soweit diese gegen die Rücknahme und damit für den Adressaten des zurückzunehmenden begünstigenden Verwaltungsakts sprechen.

11 Unter dem weiter von dem Kläger angeführten rechtlichen Gesichtspunkt eines "Vertrauensschutzes" lässt sich keine "wesentliche grundsätzliche Bedeutung" der Sache herleiten. Dabei mag hier dahinstehen, ob allein der Hinweis auf die "Frage nach dem Vertrauen ... in den Fortbestand der ursprünglichen Anerkennungsentscheidung" bei zutreffenden Angaben im Asylverfahren noch den strengen Darlegungserfordernissen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG für eine Grundsatzrüge genügt [...]. Die in dem Zusammenhang angesprochene Frage, ob beziehungsweise in welchem Umfang ein Bürger auf den Fortbestand und die Bestandskraft  einer Entscheidung vertrauen kann und inwieweit dieses Vertrauen schutzwürdig ist, beantwortet sich nach den einschlägigen Regelungen über den Widerruf beziehungsweise die Rücknahme auch von bestandskräftigen Verwaltungsakten, mit denen der Gesetzgeber einen gegebenenfalls auch an den Umständen des Einzelfalls zu orientierenden Interessenausgleich vorgenommen hat. Der Aspekt, dass der Kläger – hier unstreitig – im Jahr 2017 im Rahmen seines Asylverfahrens vollständige und wahrheitsgemäße Angaben zu seiner Eheschließung gemacht hat, führt zwar zum einen zu einem Anwendungsausschluss für die zur Rücknahme verpflichtende Regelung des § 73 Abs. 2 AsylG, hindert aber grundsätzlich – wie erwähnt – nicht den Rückgriff auf den § 48 VwVfG. Der § 73 Abs. 2 AsylG enthält keine abschließende Regelung zur Rücknahme von Anerkennungsentscheidungen, sondern lässt bei Nichtvorliegen der dort normierten tatbestandlichen Voraussetzungen grundsätzlich Raum für eine Anwendung des § 48 VwVfG (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 19.9.2000 – 9 C 12.00 –, DVBl. 2001, 216, dort sogar zu den Fällen originärer, das heißt nicht abgeleiteter Anerkennungsentscheidungen). [...]

12 Dieser Zeitpunkt kann hier nicht bereits auf das Ergehen des Anerkennungsbescheids vom 4.5.2017 bestimmt werden. Soweit der Kläger in diesem Sinne auf das unstreitige Nichtvorliegen einer Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen des konkreten Falls verweist, ist richtig, dass der § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG an die Kenntniserlangung der zuständigen Behörde von die Rücknahme rechtfertigenden "Tatsachen" anknüpft, dass aber seit der Entscheidung des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1985 [...] zum Beginn des Laufs der Rücknahmefrist bei einem bereits bei seinem Erlass rechtswidrigen, den Adressaten begünstigenden Verwaltungsakts dabei auch reine Rechtsanwendungsfehler, insbesondere eine falsche rechtliche Würdigung der bekannten Tatsachen in dem Sinne erfasst werden, das heißt also auch die spätere positive Erkenntnis der Unrichtigkeit der Verwaltungsentscheidung in dem Sinne den Tatsachen gleichzustellen ist. Nach dieser Rechtsprechung findet der § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG daher auch Anwendung, wenn eine Behörde erst nachträglich erkennt, dass sie den bei dem Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts vollständig bekannten Sachverhalt rechtlich unrichtig gewürdigt und deswegen rechtswidrig entschieden hat. In diesem Fall wird danach die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG nicht schon dadurch in Lauf gesetzt, dass die Tatsachen, auf denen die Rechtswidrigkeit beruht, im konkreten Fall der Umstand der Eheschließung des Klägers mit seiner syrischen Frau erst nach deren Flucht in die Türkei, bereits bei Erlass des begünstigenden Verwaltungsakts vorlagen und der Behörde bekannt waren. [...]

14 Ob darüber hinaus, wie das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil ausgeführt hat, auch in den Fällen vorliegender Konstellation ohne weiteres aus den (richtigen) Angaben eines Schutzsuchenden zu erkennender Rechtswidrigkeit die Frist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG erst in Lauf gesetzt wird, wenn das Bundesamt zusätzlich sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen, gegebenenfalls auch  zugunsten des potentiellen Adressaten eines Rücknahmebescheids sprechenden Tatsachen vollständig erkannt und – etwa im Wege von Anhörungen zur beabsichtigten Rücknahme – "ausermittelt" hat, erscheint fraglich. Dies würde der Behörde die Möglichkeit eröffnen, den Zeitpunkt des Laufs der Frist selbst zu steuern beziehungsweise beliebig hinauszuschieben. [...]

15 Die nach dem zuvor Gesagten im Sinne dieser Rechtsprechung jedenfalls maßgebliche positive Erkenntnis der Rechtswidrigkeit der Anerkennung vom Mai 2017 aufgrund unzureichender oder falscher Würdigung der vom Kläger zutreffend vorgetragenen Tatsachen lässt sich nach den vorgelegten Verwaltungsunterlagen des Bundesamts frühestens auf Ende Juli 2020 datieren. Unter dem 30.7.2020 hat der Sachbearbeiter zum Ausgangsaktenzeichen 6628243-163 des Klägers die Anlegung einer "Rücknahmeakte" verfügt, dies damit begründet, dass dem Kläger "Flüchtlingsschutz rechtswidrig zugestanden" worden sei und damit ersichtlich erstmals verfahrensintern die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 4.5.2017 für die Beklagte dokumentiert. Das Rücknahmeverfahren () wurde im September 2020 angelegt, wobei als "Prüfanlass" auf eine "Regelüberprüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylG" sowie auf eine anlassbezogene Überprüfung des Vorgangs verwiesen und in der Begründung ("Würdigung") die – zutreffende – Erkenntnis angeführt wurde, dass dem Kläger "unter Missachtung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Nr. 2 AsylG Flüchtlingsschutz gewährt worden sei. Bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt im Juli 2020 erfolgte die Rücknahme der Anerkennung mit Bescheid vom 4.5.2021 jedenfalls rechtzeitig im Sinne des § 48 Abs. 4 VwVfG, da dieser Bescheid nach Aktenlage am 11.5.2021 als Einschreiben zur Post gegeben wurde und somit von seiner rechtzeitigen Zustellung auszugehen ist, ohne dass es hier auf eine Anhörung des Klägers beziehungsweise dessen Rückäußerung oder den fruchtlosen Ablauf einer von dem Bundesamt der Beklagten gesetzten Äußerungsfrist ankommt. [...]