LG Coburg

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Zitieren als:
LG Coburg, Beschluss vom 07.11.2022 - 41 T 25/21 - asyl.net: M31095
https://www.asyl.net/rsdb/m31095
Leitsatz:

Abschiebungshaft in JVA Eichstätt unionsrechtswidrig:

1. Abschiebungshaft ist gemäß Art. 16 Abs. 1 Rückführungsrichtlinie [RL 2008/115/EG; umgesetzt in § 62a Abs. 1 S. 1] in speziellen Hafteinrichtungen durchzuführen. Diese zeichnen sich durch die räumliche und organisatorische Trennung von Strafhaftanstalten aus und müssen in ihrer Gestaltung so weit wie möglich den Eindruck einer Gefängnisumgebung vermeiden. Der Umstand, dass die nationalen Regelungen über die Strafvollstreckung - und sei es auch nur entsprechend - auf die Unterbringung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft anwendbar sind, stellt ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass eine solche Unterbringung nicht in einer speziellen Hafteinrichtung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der RL 2008/115/EG stattfindet.

2. Die JVA Eichstätt genügt diesen Anforderungen nicht, da weitreichende Freiheitseinschränkungen gelten, was die Möglichkeit angeht, sich frei zu bewegen, eigene technische Geräte zu nutzen oder eigene Kleidung zu tragen. Diese Einschränkungen beruhen auch auf den Regelungen zum Strafvollstreckungsrecht, was gegen die Annahme einer speziellen Hafteinrichtung spricht.

(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung: Dem Einsender zufolge dürfte dasselbe auch hinsichtlich der bayerischen Abschiebehaftanstalten in Hof und Erding gelten.)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Haftbedingungen, Justizvollzugsanstalt, Vollzugsregime, Bayern, Eichstätt, JVA Eichstätt, Unionsrecht, Rückführungsrichtlinie, Hof, Erding,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1, AufenthG § 62a Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Mit am 26.08.2021 beim Amtsgericht Coburg eingegangenem Schriftsatz beantragte die Regierung von Oberfranken - Zentrale Ausländerbehörde -, gegen den Betroffenen und Beschwerdeführer die Haft zur Sicherung der Abschiebung anzuordnen und diese bis 25.11.2021 ab Wirksamkeit des Beschlusses zu begrenzen. [...]

Anschließend wurde er in die JVA Eichstätt - eine ehemalige Strafhaftanstalt, die nunmehr ausschließlich für den Vollzug von Abschiebehaft genutzt wird - verbracht, wo er zunächst wegen Suizidgefahr (er gab zunächst weiterhin an, sich umbringen zu wollen) bis 06.09.2021 auf Anweisung der Abteilungsleiterin in einem besonderen Haftraum untergebracht wurde, Bl. 33, 77, 84, 95 f. d.A. Die Abschiebehaft im Freistaat Bayern wird gemäß § 422 Abs. 4 FamFG im Wege der Amtshilfe in entsprechender Anwendung des Strafvollzugsgesetzes vollstreckt. In Bayern existiert - anders als in den übrigen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland - kein gesondertes Abschiebungshaftvollzugsgesetz. [...]

Die Beschwerde in Gestalt des Feststellungsantrags ist zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. [...]

2. Die Beschwerde war auch begründet. Die mit Beschluss des Amtsgerichts Coburg vom 26,08.2021 angeordnete Abschiebehaft zur Sicherung der Durchführung der Abschiebung bis zum 25.11.2021 war rechtswidrig und hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt. [...]

Zwar handelt es sich bei der JVA Eichstätt nicht (mehr) um eine Strafhaftanstalt. Diese wird ausschließlich für Abschiebehäftlinge genutzt. Allerdings handelt es sich bei ihr nicht um eine spezielle Abschiebungshafteinrichtung nach Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie. Der Begriff der speziellen Hafteinrichtung ist in erster Linie durch die räumliche und organisatorische Trennung von den Strafhaftanstalten bestimmt und zeichnet sich durch besondere Anforderungen an ihre Organisation aus. Es müssen die Gestaltung und Anordnung der Örtlichkeiten so weit wie möglich den Eindruck einer Gefängnisumgebung vermeiden. Zwar ist eine fluchtverhindernde Abschottung - auch durch eine hohe Mauer - nach außen zulässig und geboten. Dagegen sind zusätzliche Freiheitsbeschränkungen im Inneren problematisch und nur auf der Grundlage besonderer gesetzlicher Regelungen zulässig: so dürfen Fenster nicht vergittert oder besondere Schließvorrichtungen vorgesehen werden, so BeckOK AuslR/Kluth, 32. Ed. 1.10.2021, AufenthG § 62a, Rdnr. 6 ff. Aus dem Wortlaut des Art. 16 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie ergibt sich, dass sich spezielle Hafteinrichtungen von gewöhnlichen Haftanstalten unterscheiden, was impliziert, dass die Haftbedingungen in diesen Einrichtungen gewisse Besonderheiten gegenüber normalen Bedingungen der Vollstreckung von Freiheitsstrafen in gewöhnlichen Haftanstalten aufweisen müssen, so EuGH, Urteil vom 10.03.2022, Az. C-519/20, Rdnr. 36. Die Abschiebungshaft dient nur der Gewährleistung der Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens und verfolgt keinerlei auf Bestrafung gerichtete Zielsetzung. Die Einrichtung soll daher den Häftling nur zwingen, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten, gleichzeitig aber diese Zwangsmaßnahme auf das beschränken, was für die wirksame Vorbereitung seiner Abschiebung unbedingt erforderlich ist. Folglich müssen die in einer solchen Einrichtung geltenden Haftbedingungen so gestaltet sein, dass mit ihnen so weit wie möglich verhindert wird, dass die Unterbringung des Drittstaatsangehörigen einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, wie sie für eine Strafhaft kennzeichnend ist, EuGH, a.a.O., Rdnr. 45. Der Umstand, dass die nationalen Regelungen über die Strafvollstreckung - und sei es auch nur entsprechend - auf die Unterbringung von Drittstaatsangehörigen in Abschiebehaft anwendbar sind, stellen ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass eine solche Unterbringung nicht in einer speziellen Hafteinrichtung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der RL 2008/115/EG stattfindet.

Gemessen an diesen Maßstäben handelt es sich bei der JVA Eichstätt nicht um eine spezielle Hafteinrichtung i.S.d. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie. Die hohen Außenmauern stehen dem zwar nicht entgegen. Allerdings können sich die Inhaftierten innerhalb des Geländes lediglich während der Aufschlusszeiten von 9.00 Uhr bis 19.00 Uhr frei bewegen, müssen sich also nicht nur während der Nachtruhe (so beispielsweise im Abschiebungshaftvollzugsgesetz Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen mit Nachtruhe von 22 Uhr bis 7 Uhr), sondern bereits deutlich länger, nämlich ab 19 Uhr und morgens bis 9.00 Uhr in ihren Zimmern aufhalten. Die Fenster sind zudem vergittert, der Besitz von Smartphones und Laptops und das Tragen eigener Kleidung ist verboten. Auch Besuchszeiten sind auf 3 x 60 Minuten pro Monat beschränkt und werden optisch überwacht. In den Abschiebungshaftvollzugsgesetzen Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg ist beispielsweise generell ein täglich möglicher Besuch (zu den Besuchszeiten ohne Überwachung) geregelt, ebenso ist das Tragen eigener Kleidung nicht generell verboten, im Abschiebungshaftvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen sogar ausdrücklich erlaubt, und technische Geräte sind nur dann verboten, wenn damit Bild- und Videoaufzeichnungen gefertigt werden können. Die Einschränkungen beruhen in der JVA Eichstätt zudem im Wesentlichen auf Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes, was ebenfalls ein gewichtiges (!) Indiz dafür ist, dass keine spezielle Hafteinrichtung vorliegt.

Dass bundesweit kein Platz für den Betroffenen in einer speziellen Abschiebehafteinrichtung vorhanden gewesen wäre, die die vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, ist von der Ausländerbehörde weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der EuGH hatte bereits entschieden, dass in mehreren deutschen Bundesländern spezielle Hafteinrichtungen vorhanden sind, EuGH, Urteil vom 17.07.2014, Az. C 473/13; so auch BGH, Beschluss vom 25.07.2014, Az. VZB 137/14, Rdnr. 7.

f) Schließlich hat der Vollzug der Haft den Betroffenen hier in seinen Rechten verletzt, weil die antragstellende Ausländerbehörde gegen den in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgrundsatz und damit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in erheblicher Weise verstoßen hat. Da die Abschiebungshaft in das Grundrecht der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 GG eingreift, ist sie auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken. Es besteht deshalb die Verpflichtung der Behörden und Gerichte, die Abschiebung, deren Sicherung die Haft allein dient, mit der größtmöglichen Beschleunigung zu betreiben, um so den Zeitraum der Freiheitsentziehung möglichst kurz zu halten. Die Haft ist auf den Zeitraum zu begrenzen, der unbedingt erforderlich ist, um die Abschiebung vorzubereiten und durchzuführen. Ein Verstoß liegt vor, wenn die Behörde längere Zeit nichts unternimmt, um die Abschiebung zu fördern. So liegt der Fall hier: obgleich Sachstand am 26.08.2021 nach Lagefortschreibung vom 20.08.2021 noch der war, dass begleitete Rückführungen in den Iran durch die Bundespolizei nicht durchgeführt wurden und die weitere Handhabung noch geprüft wurde, hat die Ausländerbehörde dennoch am 26.08.2021 die Anordnung der Abschiebungshaft beantragt, obwohl klar war, dass eine solche nach damaligem Stand nicht möglich sein würde. [...]