VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 10.11.2022 - 8 K 7060/20.A - asyl.net: M31093
https://www.asyl.net/rsdb/m31093
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Person aus Myanmar wegen exilpolitischer Aktivitäten:

1. Schon niedrigschwellige exilpolitische Aktivitäten wie regierungskritische Beiträge in sozialen Netzwerken können bei Rückkehr nach Myanmar zu politischer Verfolgung führen. Dabei differenziert das Regime nicht zwischen Aktivitäten aus Überzeugung und solchen aus asyltaktischen Gründen.

2. Bei der Rückkehrbefragung besteht die akute Gefahr von Folter, Verurteilung in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren und anschließender langjähriger Inhaftierung unter oft grausamen und unzumutbaren Haftbedingungen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Aachen, Urteil vom 20.01.2023 - 5 K 1321/20.A - asyl.net: M31452; VG Minden, Urteil vom 11.03.2022 - 4 K 3717/19.A - asyl.net: M30519)

Schlagwörter: Myanmar, politische Verfolgung, Exilpolitik, soziale Netzwerke, Haftbedingungen, Folter,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 28 Abs. 1a,
Auszüge:

[...]

Nach diesem Maßstab kann dahinstehen, ob der Kläger sein Heimatland aufgrund seiner Aktivitäten zu Gunsten des Vereins ... vorverfolgt verlassen hat. Denn der Kläger kann sich jedenfalls mit Erfolg auf Nachfluchtgründe i.S.d. § 28 Abs. 1a i.V.m. § 3 Abs. 1 AsylG berufen.

Ihm droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund seiner exilpolitischen Aktivität im Zusammenhang mit den Bedingungen einer Rückkehr und der Asylantragstellung in Deutschland eine Gefängnisstrafe und damit unverhältnismäßigere Strafverfolgung oder Bestrafung wegen einer ihm zugeschriebenen politischen Überzeugung und somit Verfolgung (vgl. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG).

Es ist derzeit davon auszugehen, dass das myanmarische Regime im Ausland aufhältigen myanmarischen Staatsangehörigen im Falle des Zusammentreffens der Veröffentlichung von Regimekritik im Internet und der Asylantragstellung im Bundesgebiet eine regimekritische Ansicht unterstellt. [...]

Es ist zwar nicht gesichert bekannt, ob und inwieweit staatliche myanmarische Stellen Demonstrationen in Deutschland gegen die Militärregierung oder Veröffentlichungen von regimekritischen Ansichten über das Internet beobachten. Es ist aber sicher davon auszugehen, dass staatliche myanmarische Stellen zumindest an der Identifizierung der Teilnehmer von Demonstrationen gegen die Militärjunta ein Interesse haben. [...]

Gleiches dürfte auf die Identifizierung von Urhebern regimekritischer Äußerungen über das Internet zutreffen. Eine Differenzierung insoweit zwischen Demonstrationen in Präsenz und in den digitalen Medien dürfte für den myanmarischen Staatsapparat unsachgemäß und aus dortiger Sicht nicht "zielführend" sein.

Es ist überdies nicht auszuschließen, dass Verfolgung von Personen nach ihrer Rückkehr nach Myanmar erfolgt, welche nach dem Militärputsch ausgereist sind und anschließend einen Asylantrag gestellt haben, in dem sie sich auf den Militärputsch beziehen. [...]

Bei einer Rückführung ist zudem anzunehmen, dass den myanmarischen Behörden die Identitäten der Rückzuführenden bekannt gegeben werden. Somit ist diesen bereits vorab eine Überprüfung möglich, bei der die exilpolitische Betätigung aufgrund der sozialen Medien im Internet unschwer festzustellen ist. Rückkehrer werden in der Regel direkt am Flughafen von myanmarischen Sicherheitskräften empfangen und verhört. Es besteht dabei die akute Gefahr von Folter, Verurteilung in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren und anschließender langjähriger Inhaftierung. In diesem Zusammenhang ist auch davon auszugehen, dass myanmarische Behörden von der Asylantragstellung Kenntnis erlangen. [...]

Nach der Erkenntnismittellage zum Vorgehen im Land ist es beachtlich wahrscheinlich, dass auch niederschwellige exilpolitische Tätigkeiten zu staatlichen Repressionen führen. Insbesondere ist die Einzelrichterin der Überzeugung, dass das derzeitige myanmarische Regime nicht zu einer relativierenden Bewertung exilpolitischer Tätigkeiten im Rahmen einer asyltaktisch, beispielsweise wirtschaftlich, motivierten Ausreise in der Lage bzw. Willens ist. Vielmehr zeigen die Erkenntnisse ein äußerst brutales und rigides Vorgehen gegen regimekritische Äußerungen, die nicht zuletzt wie von dem Kläger vorgetragen strafbar sind. In Myanmar herrscht nach dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 erneut offen ein sehr repressives System, das im Wesentlichen seit 1962 durch das Militär bestimmt wurde. Schon eine friedliche Meinungsäußerung kann zu Freiheitsstrafen führen. Es gibt keine unabhängige Justiz. Die myanmarischen Behörden unterhalten einen Staatssicherheitsdienst, der mutmaßliche regimekritische Aktivitäten unter Zuhilfenahme eines personalintensiven Überwachungsapparates und des Einsatzes moderner technischer Mittel beobachtet. [...]

Es besteht bei der Rückkehrbefragung die akute Gefahr von Folter, Verurteilung in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren und anschließender langjähriger Inhaftierung. Angesichts der durch ein systematisches, brutales Vorgehen auch gegen vermeintliche Oppositionelle gekennzeichneten Situation in Myanmar ist davon auszugehen, dass bekannte Falle von Rückkehrern keine bloßen Einzelfälle sind, sondern die generelle Praxis des Regimes Myanmars im Umgang mit zurückkehrenden Asylsuchenden widerspiegelt. [...]

Dies zu Grunde gelegt, kann dahinstehen, ob der Kläger bereits vor seiner Ausreise politisch aktiv war, indem er als Mitglied des Vereins ... Flüchtlinge unterstützte, denn dieses Engagement korreliert jedenfalls nicht mit seiner nunmehr geltend gemachten politischen Haltung gegenüber der seit Februar 2021 herrschenden Militärregierung in Myanmar. Der Kläger hat sich im Bundesgebiet in relevanter Weise exilpolitisch betätigt. Der Kläger veröffentlichte Bilder von Demonstrationen und Meinungsbekundungen zum Regime in Myanmar auf sozialen Plattformen im Internet (Facebook) unter seinem Klarnamen, mit denen er zeigt, dass er das Militär und den Militärputsch kritisiert und damit die vormalige, jedenfalls ansatzweise demokratisch legitimierte Regierung von Myanmar unterstützt. [...]

Soweit für die Kundgabe einer abweichenden politischen Meinung und der hieraus abgeleiteten Straftat eine Gefängnisstrafe droht, ist diese zur Überzeugung der Einzelrichterin unverhältnismäßig. [...]

Die Haftbedingungen sind - insbesondere, aber nicht ausschließlich, im Falle seit der Machtergreifung durch das Militär am 1. Februar 2021 erfolgter Inhaftierungen - oft grausam und unzumutbar. [...]