Elternnachzug auch zu verheirateten unbegleiteten Minderjährigen:
Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, muss nicht unverheiratet sein, um einen Anspruch auf Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zu haben.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
25 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der sich in einem Mitgliedstaat aufhält, unverheiratet sein muss, um zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades die Rechtsstellung eines Zusammenführenden zu erlangen. [...]
27 Erstens ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86, dass, wenn es sich bei dem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie handelt, die Mitgliedstaaten "ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung" gestatten.
28 Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 erlegt folglich den Mitgliedstaaten die präzise positive Verpflichtung auf, in dem in dieser Bestimmung festgelegten Fall die Familienzusammenführung der Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden zu gestatten. Das unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen auf diese Weise zuerkannte Recht auf Familienzusammenführung ist weder in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt, noch unterliegt es den in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen [...].
29 Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 sieht nicht ausdrücklich vor, dass der minderjährige Flüchtling unverheiratet sein muss, damit die Einreise und der Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zweck der Familienzusammenführung gestattet werden.
30 Zudem bezeichnet der Ausdruck "unbegleiteter Minderjähriger" im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 einen "Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind." [...]
32 Wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bezieht sich diese Definition in keiner Weise auf den Familienstand des Minderjährigen und setzt nicht voraus, dass der Minderjährige ledig ist, um als unbegleiteter Minderjähriger angesehen werden zu können. [...]
35 Der Umstand, dass der Unionsgesetzgeber eine solche Voraussetzung in Bezug auf den Familienstand der minderjährigen Kinder eines zusammenführenden Elternteils vorgesehen hat, nicht aber für den zusammenführenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, lässt wohl auf seinen Willen schließen, die Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 nicht nur auf unverheiratete unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu beschränken. [...]
37 Ein unbegleiteter Minderjähriger, der sich allein im Hoheitsgebiet eines anderen Staats als dem seines Herkunftsstaats aufhält, befindet sich nämlich in einer besonders schutzbedürftigen Lage, die es rechtfertigt, dass die Familienzusammenführung mit seinen Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades, die sich außerhalb der Union aufhalten, begünstigt wird. Diese unterschiedliche Sachlage rechtfertigt es, dass sein Recht auf Familienzusammenführung nicht den Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a unterliegt, sondern den Voraussetzungen von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86, durch den im Speziellen ein stärkerer Schutz der Flüchtlinge, die unbegleitete Minderjährige sind, gewährleistet werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2018, A und S, C-550/16, EU:C:2018:248, Rn. 44).
38 Dieser Schutz ist umso notwendiger, als die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 5 dieser Richtlinie im Rahmen der Familienzusammenführung von Ehegatten für den Zusammenführenden und seinen Ehegatten ein Mindestalter voraussetzen können, bevor der Ehegatte dem Zusammenführenden nachreisen darf. In einem solchen Fall würde eine Auslegung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie, wonach die Zusammenführung mit Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades abgelehnt würde, wenn der zusammenführende unbegleitete minderjährige Flüchtling verheiratet ist, diesen Minderjährigen in eine Situation besonderer Schutzbedürftigkeit versetzen, da ihm ohne seinen Ehegatten und seine Verwandten in aufsteigender Linie in dem Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, jegliches familiäre Netzwerk entzogen wäre. [...]
46 Außerdem kann der Familienstand eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings oftmals schwer festzustellen sein, insbesondere im Fall von Flüchtlingen aus Ländern, die nicht in der Lage sind, verlässliche amtliche Dokumente auszustellen. Somit steht die Auslegung, wonach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 die Familienzusammenführung mit Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades nicht auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge beschränkt, die nicht verheiratet sind, auch im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit, da sie sicherstellt, dass das Recht auf Familienzusammenführung nicht von den Verwaltungskapazitäten des Herkunftslands der betreffenden Person abhängt. [...]