Geringfügige Unterbrechungen der notwendigen Voraufenthaltszeit gemäß § 25a AufenthG sind unbeachtlich:
"1. Durch die Neuregelung des § 25a AufenthG soll geduldeten Jugendlichen und Heranwachsenden, die zumindest teilweise in Deutschland aufgewachsen sind, eine eigene Aufenthaltsperspektive eröffnet werden, wenn sie sich in Deutschland gut integriert haben.
2. Mit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.12.2019 (BVerwG, Urteil vom 18.12.2019 - 1 C 34.18 -, juris) sind wesentliche Fragen hinsichtlich der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG obergerichtlich geklärt. Die dort gemachten Ausführungen können in wesentlichen Teilen auf die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25a AufenthG übertragen werden. Hinsichtlich der Schädlichkeit kurzfristiger Unterbrechungszeiten und der Frage einer entsprechenden Anwendbarkeit von § 85 AufenthG weisen die Regelungen der §§ 25a und 25b AufenthG jedoch jeweils Besonderheiten auf, die einer einfachen Übertragung der dort gemachten Ausführungen entgegenstehen.
3. Eine aus Gründen des Art. 19 Abs. 4 GG gewährte Verfahrensduldung soll der betreffenden Person unabhängig vom Ausgang des Verfahrens die Möglichkeit einräumen, ihr Begehren vom Inland aus zu betreiben. Sie wird nicht durch den negativen Ausgang des Verfahrens obsolet.
4. § 85 AufenthG findet bei der Berechnung der Duldungszeiten im Rahmen von § 25a AufenthG entsprechende Anwendung.
5. Die Zeiten eines Petitionsverfahrens sind in Hessen regelmäßig als Duldungszeiten anzurechnen.
6. Nach summarischer Prüfung ist davon auszugehen, dass geringfügige Unterbrechungszeiten als Bagatellunterbrechung und daher als unbeachtlich anzusehen sind bzw. dass das der Behörde eingeräumte Ermessen nach § 85 AufenthG auf null reduziert ist."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
16 Bei Vertretung durch einen Rechtsanwalt kommt zwar der Antragsformulierung gesteigerte Bedeutung zu. Selbst dann darf aber die Auslegung vom Antragswortlaut abweichen. Nach dem verfassungsrechtlichen Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes als Auslegungshilfe ist im Zweifel zugunsten des Antragstellers anzunehmen, dass er den in der Sache in Betracht kommenden Rechtsbehelf einlegen wollte (vgl. W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 28. Aufl. 2022, § 88 Rdnr. 3, § 123 Rdnr. 4, § 80 Rdnr. 120, jeweils m.w.N.). Auch wenn sich ein anwaltlich vertretener Kläger bzw. Antragsteller grundsätzlich an dessen Anträgen festhalten lassen muss, darf indes die Auslegung vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klage-/ oder Antragsbegründung, die beigefügten Bescheide oder die sonstigen Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klage- /bzw. Antragsziel von der Antragsfassung abweicht. Im Hinblick auf das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) ist im Zweifel die Auslegung zu wählen, die ein zulässiges und den ersichtlichen Interessen des Klägers oder Antragstellers am ehesten entsprechendes Rechtsschutzbegehren enthält [...].
24 Dem Antragsteller zu 1) steht ein sicherungsfähiger Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 25a Abs. 1 AufenthG zu, da nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ein derartiger Anspruch überwiegend wahrscheinlich ist. [...]
25 Gemäß § 25a Abs. 1 Nr. 1 AufenthG soll einem Jugendlichen oder Heranwachsenden geduldeten Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält.
26 Zwischen den Beteiligten ist insbesondere streitig, ob sich der Antragsteller zu 1) vier Jahre ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufhält bzw. ob er im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung geduldet ist. Hierbei ist sowohl in Streit, ob einzelne Unterbrechungszeiten in den Duldungszeiträumen nach Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 14.04.2021 unschädlich für den Erwerb einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG sind sowie ob Zeiten der Durchführung eines Petitionsverfahrens als Duldungszeiten anzurechnen sind. [...]
29 Mit seiner Entscheidung vom 28.03.2022 (BVerwG, Beschluss vom 28.03.2022 - 1 B 35/22 -, juris) bekräftigt das Bundesverwaltungsgericht seine bisherige Rechtsprechung, dass ein Ausländer geduldet ist, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist, oder wenn er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat. Die sogenannte Verfahrensduldung sei keine eigene, im Aufenthaltsgesetz besonders geregelte Duldungsart, sondern müsse ihre Grundlage in § 60a Abs. 2 AufenthG finden. Aus der weiten Fassung dieser anrechenbaren Voraufenthalte, die auch den unrechtmäßigen, aber geduldeten sowie den asylverfahrensbezogenen, gestatteten Aufenthalt einbeziehe, folge, dass der Gesetzgeber alle Voraufenthaltszeiten angerechnet wissen wolle, die von einem aufenthaltsregelnden Verwaltungsakt gedeckt seien oder in denen eine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unzulässig gewesen sei (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28.03.2022 - 1 B 35/22 -, juris Rdnr. 8 m.w.N.). [...]
33 Die jeweils kurzfristigen Unterbrechungszeiten in den zurückgelegten Duldungszeiträumen sind nicht erheblich, auch ist die Zeit des Petitionsverfahrens vom 02.08. bis 06.12.2021 entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts als Duldungszeit anzurechnen. Dies hat auch für den ab Eingangsbestätigung der Beschwerde am 24.02.2022 maßgeblichen Zeitraum zu gelten, da der Senat die Antragsgegnerin mit dieser aufgefordert hat, die Antragsteller bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens zu dulden. [...]
42 Ebenfalls als Duldungszeit ist die Zeit des Petitionsverfahrens anzusehen, die vom 02.08.2021 bis zum 06.12.2021 angedauert hat. Zwar weist das Verwaltungsgericht in dem Beschluss 6 L 3255/21.F zu Recht darauf hin, dass die Einreichung der Petition als solche die Abschiebung rechtlich nicht gehindert habe und es keiner Verfahrensduldung bedurft habe (VG Frankfurt, Beschluss vom 17.01.2022 - 6 L 3255/21.F -, S. 11 unter Hinweis auf Dollinger in Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 60a Rdnr. 30). Dem ist zwar grundsätzlich nicht entgegen zu treten, da eine Volksvertretung (Art. 16 Hessische Verfassung) keinerlei Weisungs- bzw. Beanstandungsrechte, sondern allenfalls Informations- und Unterrichtungsrechte gegenüber der Exekutive hat (vgl. GK-AufenthG, Kommentar, § 60a Rdnr. 290). Hier hat allerdings nicht der Petitionsausschuss beim Hessischen Landtag Empfehlungen für den weiteren Verfahrensgang ausgesprochen, sondern das Hessische Ministerium des Inneren und für Sport hat durch den Petitionserlass vom 21.12.2021, gerichtet an die Ausländerbehörden in Hessen sowie die Regierungspräsidien, bindende Vorgaben zum Verfahren bei aufenthaltsrechtlichen Petitionen erlassen. Um in Fällen des Vollzugs aufenthaltsbeendender Maßnahmen nicht bereits vor der Beschlussfassung des Hessischen Landtags vollendete Tatsachen zu schaffen, wird durch den Erlass für den Fall, dass eine Ausländerin oder ein Ausländer, in deren oder dessen Interesse eine ausländerrechtliche Petition eingelegt wird, vollziehbar zur Ausreise verpflichtet ist, die Erteilung einer Ermessensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG bis zum Abschluss des Petitionsverfahrens, in der Regel für drei Monate ab Eingang des Berichts der Ausländerbehörde beim Hessischen Ministerium des Innern und Sport angeordnet. [...]
45 Nach summarischer Prüfung ist davon auszugehen, dass geringfügige Unterbrechungszeiten als Bagatellunterbrechung und daher als unbeachtlich anzusehen sind bzw. dass das der Behörde eingeräumte Ermessen nach § 85 AufenthG auf null reduziert ist. Denn im Fall des Antragstellers zu 1), der sich seit seinem zweiten Lebensjahr und damit seit 12 Jahren überwiegend mit einer Aufenthaltserlaubnis bzw. einer fiktiven Aufenthaltserlaubnis (8 Jahre und 10 Monate) im Bundesgebiet aufgehalten hat und in den darauf folgenden Verwaltungsstreitverfahren (14.04.2021 bis heute) überwiegend im Besitz von Duldungen war, seien es Verfahrensduldungen, seien es Duldungen aufgrund des von ihm anhängig gemachten Petitionsverfahrens, seien es faktische Duldungen aufgrund des Schreibens des Hessischen Ministerium des Inneren und für Sport vom 06.12.2021, stellen sich die zu besorgenden Fehlzeiten als derart untergeordnet dar, dass das der Behörde eingeräumte Ermessen (§ 85 AufenthG) auf null reduziert ist. [...]