VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 31.08.2022 - 1 K 1228/19.A - asyl.net: M31076
https://www.asyl.net/rsdb/m31076
Leitsatz:

Zulässiger Asylfoleantrag für Personen aus Tschetschenien wegen drohender Rekrutierung für Ukraine-Krieg:

1. Der Vortrag, zu befürchten, zum russischen Militär eingezogen und in dem völkerrechtswidrigen Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine eingesetzt zu werden, begründet eine Änderung der Sachlage gemäß § 71 Abs. 1 AsylG, § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, sodass ein neues Asylverfahren durchzuführen ist.

2. Die Regelung des § 71 Abs. 1 AsylG, § 51 Abs. 2 VwVfG, wonach ein Folgeantrag innerhalb von drei Monaten nach Kenntnis des Grundes für das Wiederaufgreifen zu stellen ist, bleibt wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts unangewandt, weil sie mit Art. 40 Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) nicht vereinbar ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 09.09.2021 - C-18/20 XY gg. Österreich (Asylmagazin 12/2021, S. 434 ff.) - asyl.net: M29993)

Schlagwörter: Russische Föderation, Asylfolgeantrag, Tschetschenen, Militärdienst, Ukraine, veränderte Sachlage,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, VwVfG § 51 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 40, RL 2013/32/EU Art. 40 Abs. 4, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 5,
Auszüge:

[...]

In der mündlichen Verhandlung vom 31. August 2022 haben sich die Kläger zu 1., 3. und 4. des Weiteren darauf berufen, sie müssten im Fall ihrer Rückkehr in die Russische Föderation damit rechnen, zum Militär
eingezogen und in dem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine eingesetzt zu werden. [...]

Zwar haben die Kläger zu 1., 3. und 4. ihren Asylfolgeantrag bis zur mündlichen Verhandlung am 31. August 2022 nicht ansatzweise untersetzt und sie haben insbesondere im Verwaltungsverfahren nicht dargelegt, dass sich die dem Ausgangsbescheid zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zu ihren Gunsten geändert haben könnte.

Mit ihrem Vorbringen aus der mündlichen Verhandlung, sie befürchteten zum Militär eingezogen und in dem völkerrechtswidrigen Krieg der Russischen Föderation in der Ukraine eingesetzt zu werden, haben sie eine mögliche Änderung der Sachlage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG jedoch hinreichend konkret vorgetragen und dieser Vortrag ist im Klageverfahren zu berücksichtigen. [...]

Nach § 71 Abs. 3 S. 1 AsylG hat der Ausländer in dem Folgeantrag unter anderem die Tatsachen und Beweismittel anzugeben, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergibt. Der Asylfolgeantragsteller ist danach im Grundsatz verpflichtet, den geltend gemachten Wiederaufnahmegrund und die weiteren Voraussetzungen einer Wiederaufnahme schlüssig, also substantiiert und widerspruchsfrei, vorzutragen, und die Geeignetheit dieser Umstände für eine ihm günstigere Entscheidung nachvollziehbar darzulegen [...].

Der völkerrechtswidrige Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine und der Personalbedarf der russischen Streitkräfte sind ebenso allgemeinkundig wie eine mögliche Einziehung von Männern im wehrdienstfähigen Alter durch die Streitkräfte der Russischen Föderation oder eine mögliche extralegale "Verpflichtung" durch das tschetschenische Republikoberhaupt Ramzan Kadyrov (vgl. dazu Urt. d. Kammer v. 04. August 2022 – V... –, zur Veröffentlichung vorgesehen). Vor diesem Hintergrund bedurfte es einer weitergehenden Darlegung von Seiten der Kläger zu 1., 3. und 4. hier nicht. [...]

Vorliegend lässt der Vortrag der Kläger zu 1., 3. und 4. eine Änderung der Sachlage schon mit Blick auf die Verfolgungshandlungen des § 3a Abs. 2 Nr. 1 und 5 AsylG als jedenfalls möglich erscheinen.

Der Berücksichtigung des Vortrags aus der mündlichen Verhandlung steht auch weder § 71 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 51 Abs. 2 VwVfG entgegen noch waren die Kläger zu 1., 3. und 4. verpflichtet, die Antragsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG zu berücksichtigen. Zwar hat danach der Ausländer den Folgeantrag innerhalb einer Frist von drei Monaten, beginnend mit dem Tage, an dem er von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erlangt hat, zu stellen. Diese Antragsfrist bleibt im Asylfolgeverfahren allerdings wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts unangewandt, weil sie mit Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes nicht vereinbar ist (EuGH, Urt v. 09. September 2021 – C-18/20 –, juris Rn. 54 ff.; Dickten in: BeckOK AuslR, 34. Ed. 1.4.2022, AsylG § 71 Rn. 7 und 12). [...]