OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.09.2022 - 12 S 33/22 - asyl.net: M31074
https://www.asyl.net/rsdb/m31074
Leitsatz:

Kein Ausschluss des Familiennachzugs wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in der Vergangenheit:

1. Der Wortlaut des § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG ermöglicht eine verfassungskonforme Auslegung, wonach im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK in der Vergangenheit begangene Unterstützungshandlungen der Referenzperson für eine terroristische Organisation nur dann zum Ausschluss des Familiennachzugs führen, wenn es an einer glaubhaften und nachhaltigen Distanzierung von diesem Verhalten fehlt.

2. Eine Person, die im Alter von 15 Jahren zu einer Jugendstrafe von 9 Monaten verurteilt wurde, sich im Anschluss bewährt und langjährig und erfolgreich an Deradikalisierungsprogrammen teilgenommen hat, eine Ausbildung absolviert und sich glaubhaft von ihrem früheren Verhalten und ihrer früheren Einstellung distanziert hat, stellt keine gegenwärtige Gefahr für eines der in § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG genannten Schutzgüter dar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, Ausschlussgrund, terroristische Vereinigung, Visum, Unterstützung, Referenzperson, Ehegattennachzug,
Normen: AufenthG § 27 Abs. 3a Nr. 1, AufenthG § 27 Abs. 3a, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

I. Gemäß § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG ist die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zum Zweck des Familiennachzugs zu versagen, wenn derjenige, zu dem der Familiennachzug stattfinden soll (im Folgenden: Referenzperson), die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist u.a. (und hier nur relevant) auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat.

Der Grundtatbestand des § 27 Abs. 3a Nr. 1 wie auch der Nr. 3 und 4 AufenthG verweist auf ein gegenwartsbezogenes Verhalten, wenn danach verlangt wird, dass der Betroffene die freiheitliche demokratische Grundordnung "gefährdet" (Nr. 1), sich an Gewalttätigkeiten "beteiligt" bzw. dazu öffentlich "aufruft" oder "droht" (Nr. 3) oder zum Hass gegen Teile der Bevölkerung "aufruft" (Nr. 4). Mit guten Gründen wird daher vertreten, Behörden und Gerichte müssten bei einer öffentlichen und glaubhaften Distanzierung der Referenzperson von ihrem früheren tatbestandsmäßigen Verhalten auch ohne eine gesetzliche Rückausnahme, wie sie im ursprünglichen Entwurf des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes (BR-Drs. 175/18 S. 2 und 13) noch vorgesehen war, prüfen, ob der Nachzug verweigert werden darf [...].

Daran gemessen steht der Wortlaut des § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG entgegen der Beschwerde jedenfalls einer verfassungskonformen Auslegung der Regelung nicht entgegen, wie das Verwaltungsgericht sie für geboten erachtet und vorgenommen hat. Denn der Passus im Gesetz, "hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass (die Referenzperson einer der genannten Vereinigungen) angehört hat (…) oder (sie) eine derartige Vereinigung unterstützt (…) hat", rechtfertigt vor dem Hintergrund des im Gesetzgebungsverfahren auch vom Ausschuss für Inneres und Heimat (BT-Drs. 19/2740) unbeanstandet gelassenen Gegenwartsbezugs des ersten Halbsatzes auch ein Verständnis der Norm, nach dem in der Vergangenheit begangene Unterstützungshandlungen auch und nur dann noch eine gegenwärtige Gefährdung der genannten Schutzgüter darstellen, wenn es an einer glaubhaften und nachhaltigen Distanzierung vom früheren Verhalten fehlt. [...]

Zwar wurde die Ehefrau des Antragstellers wegen einer im Alter von 15 Jahren begangenen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Jugendstrafe von neun Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Beschwerde stellt jedoch nicht in Abrede, dass sie sich bewährt, langjährig und erfolgreich an Deradikalisierungsprogrammen teilgenommen, eine Ausbildung absolviert und sich glaubhaft von ihrem früheren Verhalten und ihrer früheren Einstellung distanziert hat, sie also eine gegenwärtige Gefahr für eines der in § 27 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG genannten Schutzgüter nicht mehr darstellt. [...]