VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 21.10.2022 - 23 L 408/22 A - asyl.net: M31069
https://www.asyl.net/rsdb/m31069
Leitsatz:

Eilrechtsschutz für in Bulgarien anerkannte Person im Folgeantragsverfahren:

1. Hinsichtlich einer Person, der in Bulgarien vor längerer Zeit internationaler Schutz zuerkannt worden ist (hier: 2013) und deren Asylantrag vom BAMF aufgrund dessen gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor längerer Zeit abgelehnt worden ist (hier: 2016), hat sich die Sachlage voraussichtlich derart geändert, dass gemäß § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG ein neues Asylverfahren durchzuführen ist.

2. Aufgrund einer Gesetzesänderung in Bulgarien 2020 und aktuellen Erkenntnissen, wonach dort zuerkannter Schutz in einigen Fällen nach mehreren Jahren entfallen ist, bestehen konkrete Zweifel daran, dass der subsidiäre Schutzstatus der betroffenen Person noch fortbesteht und der Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG deshalb als unzulässig abgelehnt werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, Asylfolgeantrag, veränderte Sachlage, ausländische Anerkennung, Erlöschen, Unzulässigkeit,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist ein Asylantrag unter anderem dann unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags nach § 71 AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. [...]

Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG ist im Falle eines Folgeantrags ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG bzw. des Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (RL 2013/32/EU) vorliegen. [...]

Davon ausgehend hat der Antragsteller nach summarischer Prüfung einen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Ein Grund für das Wiederaufgreifen des früheren Verfahrens im Sinne des § 51 Abs. 1 VwVfG dürfte vorliegen. Die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sachlage dürfte sich nach der Ablehnung des ersten Asylverfahrens des Antragstellers zu seinen Gunsten geändert haben. Wegen des langen Zeitablaufs, einer Gesetzesänderung in Bulgarien im Jahr 2020 und den darauf beruhenden aktuellen Erkenntnissen, wonach in Bulgarien zuerkannter Schutz in einigen Fällen nach mehreren Jahren nicht mehr fortbesteht, bestehen konkrete Zweifel daran, dass der dem Kläger in Bulgarien am 4. Juli 2013 zuerkannte subsidiäre Schutzstatus noch fortbesteht.

Es ist aus Parallelverfahren gerichtsbekannt und ergibt sich, auch aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln, dass in Bulgarien zuerkannter Schutz in einigen Fällen nach mehreren Jahren nicht mehr fortbestehen (vgl. zur Frage des Fortbestandes in Bulgarien gewährten internationalen Schutzes: OVG Lüneburg, Urteil vom 7. Dezember 2021 - 10 LB 257/20 -, juris Rn. 39 ff; VG Freiburg, Urteil vom 17. September 2021 - A 14 K 1924/18 -, juris Rn. 34; VG Bremen, Urteil vom 7. Mai 2021 - 2 K 879/18 -, juris Rn. 23 ff.). So kann nach Art. 42 Abs. 5 des bulgarischen Asyl- und Flüchtlingsgesetzes (in Kraft getreten am 20. Oktober 2020) ein Verfahren zur Aberkennung oder Beendigung eines zuerkannten internationalen Schutzes eingeleitet werden, wenn der Schutzberechtigte keinen fristgerechten Antrag auf Ausstellung neuer Ausweispapiere stellt (vgl. hierzu Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Stade vom 12. Mai 2021), wobei die Gründe für die Beendigung des Schutzes ihrerseits in Art. 17 des Asyl- und Flüchtlingsgesetzes abschließend aufgeführt sind. Nach Darstellung der Staatlichen Flüchtlingsagentur Bulgariens (SAR) wird, wenn die gesetzlich bestehende Verpflichtung, abgelaufene Dokumente zu erneuern, nicht erfüllt wird, überprüft, ob der Schutzberechtigte noch den Bedarf oder den Wunsch hat, den ihm zuerkannten Schutz weiter in Anspruch zu nehmen [...]. In parallel gelagerten Klageverfahren hat sich gezeigt, dass diese Widerrufsverfahren in einer durchaus relevanten Anzahl eingeleitet werden und auch zum Wegfall des Schutzes führen können.

Anerkannte Flüchtlinge erhalten in Bulgarien Identitätsdokumente mit fünf Jahren Gültigkeit und subsidiär Schutzberechtigte mit drei Jahren Gültigkeit (vgl. aida 2021, S. 90; BFA, Anfragebeantwortung, 19. Juli 2021, S. 6). Ausgehend von der Zuerkennung des subsidiären Schutzes am 4. Juli 2013 sind die Dokumente des Antragstellers seit langem abgelaufen. Da er sie nicht hat verlängern lassen und er sich mittlerweile seit mehr als acht Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhält und den bulgarischen Schutz daher nicht mehr in Anspruch nimmt, spricht einiges dafür, dass er die oben dargestellten Voraussetzungen für die Einleitung eines Widerrufsverfahrens und wohl auch für den Widerruf des subsidiären Schutzstatus erfüllt, mit der Folge, dass jedenfalls nicht ohne weiteres vom Fortbestand des Schutzes ausgegangen werden kann. Eine Mitteilung der bulgarischen Behörden, aus der sich ergeben könnte, dass der Schutzstatus des Antragstellers dennoch fortbesteht, liegt nicht vor. Vielmehr sind sowohl das Informationsersuchen des Bundesamtes aus Dezember 2021 als auch aus Juli 2022 unbeantwortet geblieben. Die veränderte Sachlage ist auch geeignet, eine für den Antragsteller günstigere Entscheidung über sein Asylbegehren herbeizuführen. Denn besteht der Schutz in Bulgarien nicht mehr fort, fehlt es an der Grundlage für eine auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützte Unzulässigkeitsentscheidung (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Januar 2022 - OVG 3 B 52.19 -, Abdruck S. 2). [...]