VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 26.09.2022 - 7 K 2203/20.A - asyl.net: M31068
https://www.asyl.net/rsdb/m31068
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für Sikhs aus Afghanistan:

1. Personen, die der Auslegung des Islam durch die Taliban nicht folgen oder anderen Religionen angehören, sind in Afghanistan großer Gefahr ausgesetzt.

2. Sikhs wurden bereits in der Vergangenheit Opfer weitreichender Verfolgung durch die Taliban und würden bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan keine Religionsfreiheit genießen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Sikhs, religiöse Verfolgung, Religionsfreiheit,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Denn der Kläger besitzt allein die afghanische Staatsangehörigkeit (dazu 1.) und befindet sich als gläubiger Sikh aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion durch die Taliban außerhalb seines Herkunftslandes (dazu 2.). [...]

2. Nach der Machtübernahme der Taliban droht dem Kläger als Sikh aufgrund seiner Religion mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure (dazu a.), ohne dass ihm staatlicher Schutz gewährt werden wird oder eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht (dazu b.). [...]

Dies vorausgeschickt, kann das Gericht angesichts der aktuellen Entwicklungen in Afghanistan infolge der Machtübernahme der Taliban offen lassen, ob bereits aufgrund der individuellen Ausführungen des Klägers zu seinem Fluchtschicksal mit seiner religiösen Verfolgung zu rechnen ist. [...]

Bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban war die Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt. [...]

Die Herrschaft der Taliban führte zu einem Auszug der Sikhs aus Afghanistan, die überwiegend nach Indien geflohen sind. In den 70er Jahren lebten noch etwa 100.000 von ihnen dort. Im Jahr 1992 flohen knapp 65.000 Sikhs vor den Taliban, und in den letzten Jahrzehnten ging ihre Zahl kontinuierlich zurück. Infolge der erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021 kam es zu einer weiteren Fluchtbewegung. Nach unterschiedlichen Quellen ist von 200 bis 250 bzw. im Januar 2022 von 140 in Afghanistan verbliebenen Sikhs die Rede, und zwar überwiegend in Jalalabad, Kabul, Ghazni und Kandahar. Einige sind geblieben, um ihre Tempel zu pflegen. Die meisten haben das Land infolge des nunmehrigen Machtübergangs verlassen. [...]

Zwar gab es Erklärungen der Taliban, dass afghanische Hindus und Sikhs nach Indien ausreisen dürfen und ihre Rechte in Afghanistan geschützt sind. [...]

Allerdings herrscht gegenüber dieser Erklärung der radikal-islamischen Taliban weithin Skepsis, und sie hat die oben beschriebene Fluchtbewegung seit August 2021 nicht aufgehalten. Zudem hat sich die indische Regierung veranlasst gesehen, für afghanische Sikhs und Hindus Notfallvisa auszustellen. [...]

Dies gilt auch deshalb, weil es Berichten zufolge zu wiederholten Übergriffen auf den einzig verbliebenen Gurdwara in Afghanistan im Kabuler Stadtteil Kart-e Parwan kam. Im Oktober 2021 belästigten bewaffnete Mitglieder der Taliban die gläubigen Sikhs in ihrem zentralen Tempel. Im Juni 2022 verübte die Miliz Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISKP) einen Anschlag auf eine Gebetsstätte der Sikhs, bei welchem zwei Personen getötet und sieben weitere Personen verletzt wurden. [...]

Afghanen, welche der strikten sunnitischen Auslegung des Islams der Taliban nicht Folge leisten oder anderen Glaubensrichtungen angehören, sind dort großer Gefahr ausgesetzt. [...]

Angesichts dieser Entwicklung gibt es derzeit keinen Grund für die Annahme, der Kläger könnte in Afghanistan in religiöser Freiheit leben. Dass er die für ihn geltenden religiösen Vorschriften des Sikhismus als verpflichtend ansieht, ist insbesondere nach seinem Erscheinungsbild und seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung nicht zweifelhaft. [...]