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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 08.11.2022 - C-704/20; C-39/21 Niederlande gg. C und X (Asylmagazin 1-2/2023, S. 35 ff.) - asyl.net: M31058
https://www.asyl.net/rsdb/m31058
Leitsatz:

Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen bei Inhaftierung von Amts wegen zu prüfen:

1. Verwaltungs- und Justizbehörden (u.A. Gerichte) haben bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Inhaftierung nach Unionsrecht von Amts wegen alle Umstände zu berücksichtigen, die ihr zur Kenntnis gelangen, unabhängig davon, ob sich die betroffene Person auf diese Umstände beruft. Sie müssen in der Lage sein, jeden für ihre Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls sie dies für erforderlich halten.

2. Da das Unionsrecht ohne Ausnahme verlangt, dass die Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit der Haft "in angemessenen Zeitabständen" geprüft werden, sind die zuständigen Behörden verpflichtet, eine Überprüfung von Amts wegen vorzunehmen, selbst wenn die betroffene Person sie nicht beantragt hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Vorbereitungshaft, Unionsrecht, Rückführungsrichtlinie, Aufnahmerichtlinie, Amtsermittlung, Haftprüfung,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 15 Abs. 2, RL 2013/33/EU Art. 9, RL 2013/33/EU Art. 8 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 28 Abs. 2, GR-Charta Art. 6,
Auszüge:

[...]

37 Der Raad van State (Staatsrat) hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: "Verpflichtet das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 und Art. 9 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit Art. 6 der Charta, zu einer Prüfung von Amts wegen in dem Sinne, dass das Gericht verpflichtet ist, von sich aus (ex officio) zu beurteilen, ob alle Voraussetzungen für die Inhaftnahme erfüllt sind, einschließlich der Voraussetzungen, deren Vorliegen der Ausländer nicht in Abrede gestellt hat, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte?" [...]

38 X ist ein 1973 geborener marokkanischer Staatsangehöriger. Mit Beschluss vom 1. November 2020 nahm ihn der Staatssecretaris gemäß Art. 59 Abs. 1 Buchst. a Vw in Haft, der zu den Vorschriften gehört, mit denen die Richtlinie 2008/115 im niederländischen Recht umgesetzt wurde. Diese Inhaftnahme sei zum Schutz der öffentlichen Ordnung erforderlich gewesen, weil die Gefahr bestanden habe, dass sich X den Kontrollen entziehe und die Abschiebung vereitle. [...]

42 Das vorlegende Gericht bittet um Erläuterungen zu den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Intensität der richterlichen Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Haftmaßnahmen. [...]

72 Insoweit ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass jede Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen, sei es gemäß der Richtlinie 2008/115 im Rahmen eines Rückkehrverfahrens infolge eines illegalen Aufenthalts, gemäß der Richtlinie 2013/33 im Rahmen der Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz oder gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 im Rahmen der Überstellung einer Person, die einen solchen Schutz beantragt hat, in den für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat einen schwerwiegenden Eingriff in das in Art. 6 der Charta verankerte Recht auf Freiheit darstellt. [...]

75 Angesichts der Schwere dieses Eingriffs in das in Art. 6 der Charta verankerte Recht auf Freiheit und der Bedeutung dieses Rechts ist die den zuständigen nationalen Behörden zuerkannte Befugnis, Drittstaatsangehörige in Haft zu nehmen, eng begrenzt. [...] 

78 Insbesondere kann der betreffende Drittstaatsangehörige, wie in Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/115, Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 und Art. 28 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 präzisiert, nicht in Haft genommen werden, wenn eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam angewandt werden kann.

79 Stellt sich heraus, dass die in Rn. 77 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft nicht oder nicht mehr erfüllt sind, ist die betroffene Person unverzüglich freizulassen, wie der Unionsgesetzgeber im Übrigen in Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 4 und Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 sowie in Art. 9 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/33 ausdrücklich vorschreibt. [...]

81 Was als Zweites das Recht von Drittstaatsangehörigen, die von einem Mitgliedstaat in Haft genommen wurden, auf wirksamen gerichtlichen Schutz betrifft, müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 47 der Charta dafür Sorge  tragen, dass ein wirksamer gerichtlicher Schutz der aus der Unionsrechtsordnung erwachsenden Rechte der Einzelnen gewährleistet ist. [...]

83 Nach diesen Vorschriften, die in dem betreffenden Bereich eine Konkretisierung des in Art. 47 der Charta garantierten Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz darstellen (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Foigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C-924/19 PPU und C-925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 289), muss jeder Mitgliedstaat dafür sorgen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von Amts wegen oder auf Antrag der betroffenen Person "innerhalb kurzer Frist" gerichtlich überprüft wird, wenn die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet wurde.

84 In Bezug auf die Aufrechterhaltung der Haft schreiben Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 und Art. 9 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33, der gemäß Art. 28 Abs. 4 der Verordnung Nr. 604/2013 im Rahmen der dieser Verordnung unterliegenden Überstellungsverfahren ebenfalls Anwendung findet, eine regelmäßige Überprüfung vor. Nach diesen Vorschriften muss eine solche Überprüfung "in angemessenen Zeitabständen" stattfinden, um festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft noch gegeben sind. [...]

85 Da der Unionsgesetzgeber ohne Ausnahme verlangt, dass eine Überprüfung der Erfüllung der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft "in angemessenen Zeitabständen" stattfindet, ist diezuständige Behörde verpflichtet, die Überprüfung von Amts wegen vorzunehmen, selbst wenn die betroffene Person sie nicht beantragt hat.

86 Wie sich aus allen diesen Vorschriften ergibt, hat sich der Unionsgesetzgeber nicht darauf beschränkt, gemeinsame materielle Normen festzulegen, sondern hat auch gemeinsame Verfahrensnormen eingeführt, die gewährleisten sollen, dass in jedem Mitgliedstaat eine Regelung besteht, die es der zuständigen Justizbehörde ermöglicht, die betroffene Person, gegebenenfalls nach einer Prüfung von Amts wegen, freizulassen, sobald sich erweist, dass ihre Inhaftierung nicht oder nicht mehr rechtmäßig ist.

87 Damit eine solche Schutzregelung wirksam gewährleistet, dass die strengen Voraussetzungen, denen die Rechtmäßigkeit einer Haft im Sinne der Richtlinie 2008/115, der Richtlinie 2013/33 oder der Verordnung Nr. 604/2013 unterliegt, eingehalten sind, muss die zuständige Justizbehörde in der Lage sein, über alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu befinden, die für die Überprüfung dieser Rechtmäßigkeit relevant sind. Hierfür muss sie die tatsächlichen Umstände und die Beweise berücksichtigen können, die von der Verwaltungsbehörde angeführt worden sind, die die ursprüngliche Inhaftnahme angeordnet hat. Sie muss auch die Tatsachen, Beweise und Stellungnahmen berücksichtigen können, die ihr gegebenenfalls von der betroffenen Person vorgelegt werden. Außerdem muss sie in der Lage sein, jeden anderen für ihre Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls sie dies für erforderlich hält. Ihre Befugnisse im Rahmen einer Überprüfung können keinesfalls auf die von der Verwaltungsbehörde angeführten Umstände und Beweise beschränkt werden. [...]

88 Wie der Generalanwalt in Nr. 95 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, muss die zuständige Justizbehörde in Anbetracht der Bedeutung des Rechts auf Freiheit, der Schwere des Eingriffs in dieses Recht, den die Inhaftnahme von Personen aus anderen Gründen als der Verfolgung oder Ahndung von Straftaten darstellt, und des durch die vom Unionsgesetzgeber eingeführten gemeinsamen Normen hervor gehobenen Erfordernisses eines hohen gerichtlichen Schutzes, der es erlaubt, dem zwingenden Gebot nachzukommen, die betreffende Person freizulassen, wenn die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft nicht oder nicht mehr erfüllt sind, sämtliche ihr zur Kenntnis gebrachten, insbesondere tatsächlichen Umstände berücksichtigen, wie sie im Rahmen von Prozessmaßnahmen ergänzt oder aufgeklärt werden, die sie gemäß ihrem nationalen Recht für geboten hält, und anhand dieser Umstände gegebenenfalls den Verstoß gegen eine sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechtmäßigkeitsvoraussetzung feststellen, auch wenn dieser Verstoß von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurde. [...]

89 Insoweit kann insbesondere nicht zugelassen werden, dass in den Mitgliedstaaten, in denen Haftentscheidungen von einer Verwaltungsbehörde getroffen werden, die gerichtliche Kontrolle nicht umfasst, dass die Justizbehörde anhand der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Umstände überprüft, ob eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung erfüllt ist, deren Missachtung von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurde, während in den Mitgliedstaaten, in denen Haftentscheidungen von einer Justizbehörde zu treffen sind, diese verpflichtet ist, von Amts wegen eine solche Überprüfung anhand dieser Umstände vorzunehmen.

90 Die in Rn. 88 des vorliegenden Urteils festgehaltene Auslegung stellt sicher, dass der gerichtliche Schutz des Grundrechts auf Freiheit in allen Mitgliedstaaten wirksam gewährleistet wird, gleich, ob sie eine Regelung vorsehen, nach der die Haftentscheidung von einer Verwaltungsbehörde getroffen wird und der gerichtlichen Kontrolle unterliegt, oder eine Regelung, nach der diese Entscheidung unmittelbar durch ein Gericht getroffen wird. [...]

94 Nach alledem ist auf die Frage in der Rechtssache C-704/20 und die erste Frage in der Rechtssache C-39/21 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2008/115, Art. 9 Abs. 3 und 5 der Richtlinie 2013/33 sowie Art. 28 Abs. 4 der Verordnung Nr. 604/2013 in Verbindung mit den Art. 6 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass eine Justizbehörde im Rahmen ihrer Kontrolle, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen beachtet wurden, anhand der ihr zur Kenntnis gebrachten Umstände des Falles, wie sie im bei ihr anhängigen kontradiktorischen Verfahren ergänzt oder aufgeklärt wurden, von Amts wegen zu prüfen hat, ob eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung missachtet wurde, auf die sich die betroffene Person nicht berufen hat. [...]