VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 22.10.2022 - 38 L 340/22 A - asyl.net: M31055
https://www.asyl.net/rsdb/m31055
Leitsatz:

Ausnahmsweises Absehen von der Anhörung im Folgeverfahren steht im Ermessen des BAMF:

1. Es liegt im Ermessen des BAMF, von der persönlichen Anhörung im Folgeantragsverfahren gemäß § 71 Abs. 3 S. 3 AsylG ausnahmsweise abzusehen.

2. Lassen weder Bescheid noch Verfahrensakte Ermessenserwägungen erkennen, warum das BAMF von der persönlichen Anhörung abgesehen hat, spricht viel dafür, dass ein Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs vorliegt.

3. Im Rahmen ihrer Darlegungs- und Mitwirkungspflicht haben Schutzsuchende die neuen Gründe in Grundzügen schriftlich vorzutragen, damit das BAMF prüfen kann, ob das Vorbringen schlüssig ist und eine Änderung der Sachlage darstellen kann (sog. Anstoßfunktion). Erforderlich ist aber gerade nicht, dass bereits alle Details zu den neuen Gründen angegeben werden, denn diese sind in einer persönlichen Anhörung zu erfragen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Minden, Urteil vom 06.04.2022 - 10 K 3200/20.A - asyl.net: M30710)

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Anhörung, Ermessensfehler, Verfolgungsgrund, schriftliche Begründng, Absehen von Anhörung,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1 S. 1, AsylG § 25 Abs. 1, AsylG § 29 Abs. 2 S. 2, AsylG § 71 Abs. 3 S. 3, AsylG § 24 Abs. 1 S. 3, VwVfG § 46,
Auszüge:

1. Es liegt im Ermessen des Bundesamtes, ob es für eine rechtsfehlerfreie Entscheidung über einen Folgeantrag die persönliche Anhörung der Schutzsuchenden (z.B. in der Form der "informatorischen Befragung") für notwendig erachtet.

2. Die Ermessenserwägungen haben die sog. Anstoßfunktion der schriftlichen Begründung des Folgeantrags zu berücksichtigen.
(Amtliche Leitsätze) [...]

17 1. An der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamtes, es zu unterlassen, für die Antragsteller ein Folgeverfahren hinsichtlich ihrer Anerkennung als Asylberechtigte sowie der Zuerkennung internationalen Schutzes durchzuführen, und vielmehr mit Bescheid vom 14. September 2022 ohne vorherige Anhörung die Unzulässigkeit des erneuten Asylantrags festzustellen, bestehen ernstliche Zweifel [...]

19 Nach dem somit zur Anwendung kommenden § 29 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 71 Abs. 3 S. 3 AsylG kann von der nach § 24 Abs. 1 S. 3 AsylG eigentlich zwingend zu erfolgenden persönlichen Anhörung (siehe § 25 AsylG) ausnahmsweise abgesehen werden. Gegen die Vereinbarkeit dieser Ausnahme mit Unionsrecht bestehen keine Bedenken (siehe Art. 34 Abs. 1 UAbs. 1 S. 3, Art. 42 Abs. 2 lit. b] Asylverfahrens-RL 2013/32/EG). Es liegt somit im Ermessen des Bundesamtes, ob es im konkreten Einzelfall für eine rechtsfehlerfreie Entscheidung die persönliche Anhörung der Schutzsuchenden (z.B. in der Form der "informatorischen Befragung") für notwendig erachtet; in jedem Fall ist ihnen gem. § 29 Abs. 2 S. 2 AsylG Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme zu geben. [...]

20 Vorliegend wurde den Antragstellern zwar bereits bei der Stellung des Folgeantrags am 13. September 2022 Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben (§ 29 Abs. 2 S. 2 AsylG), eine Anhörung fand aber nicht statt (§ 24 Abs. 1 S. 3, § 25 AsylG). [...]

21 a) Ob das Bundesamt das ihm eingeräumte Verfahrensermessen, ob vor Bescheiderlass eine Anhörung erfolgt, überhaupt erkannt hat, ist ernstlich zweifelhaft.

22 So hat es weder in dem angefochtenen Bescheid noch in einem dazugehörigen Aktenvermerk ausdrücklich begründet, weshalb es von einer persönlichen Anhörung der Antragsteller abgesehen hat. Es spricht daher viel für einen Ermessensnichtgebrauch (bzw. Ermessensmangel oder Ermessensunterschreitung), der immer dann vorliegt, wenn die Entscheidung die Ermessenserwägungen nicht ansatzweise erkennen lässt. [...]

23 b) Sollten sich hinter der materiellen Erwägung, dass kein Sachvortrag vorliegt, der möglicherweise eine günstigere Entscheidung gebietet (S. 3 des Bescheids), indes auch Ermessenserwägungen verbergen, wäre jedenfalls von einem Ermessensfehlgebrauch auszugehen. Ein solcher Ermessensfehlgebrauch liegt dann vor, wenn die behördliche Entscheidung nicht den jeweiligen Zwecksetzungen und Zweckvorgaben entspricht (Schwarz, a.a.O., Rn. 46 m.w.N.).

24 Im Bescheid ist ausgeführt, dass die Angaben der Antragsteller lediglich "pauschal und detailarm" seien und ein "konkreter, detailreicher Vortrag" ebenso fehle wie die Vorlage von Nachweisen; die Ausführungen seien "substanzarm" und daher unglaubhaft. Damit werden – die erforderliche Ermessenserwägung unterstellt – übertriebene Anforderungen an die schriftliche Begründung des Folgeantrags gestellt.

25 Zwar haben die Schutzsuchenden im Rahmen ihrer Darlegungs- und Mitwirkungspflicht (§ 71 Abs. 3 S. 1 AsylG in Konkretisierung der allgemeinen Darlegungs- und Mitwirkungspflicht nach § 25 Abs. 1 AsylG) die neuen Gründe in den Grundzügen schriftlich vorzutragen (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AusländerR, 14. Aufl. 2022, § 71 AsylG Rn. 41 m.w.N.). Eine solche schriftliche Angabe der Gründe gibt dem Bundesamt nämlich überhaupt erst die Möglichkeit einer Prüfung, ob das Vorbringen schlüssig ist und eine Änderung der Sachlage darstellen kann (sog. Anstoßfunktion). Erforderlich ist somit aber gerade nicht, dass bereits alle Details zu den neuen Gründen angegeben werden, derer Erfragung dient vielmehr gerade die Anhörung.

27 (3) Dieser Verfahrensfehler ist auch nicht nach § 46 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) unbeachtlich. [...]