LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 02.11.2022 - L 4 SO 124/22 B ER (Asylmagazin 3/2023, S. 83 f.) - asyl.net: M31048
https://www.asyl.net/rsdb/m31048
Leitsatz:

Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII für Drittstaatsangehörige aus der Ukraine:

1. Die Antragstellenden sind nicht gemäß § 23 Abs. 2 SGB XII wegen Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen. Denn gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 3, Nr. 8 AsylbLG sind aus dem Personenkreis der aus der Ukraine geflüchteten Menschen nur noch diejenigen nach dem AsylbLG leistungsberechtigt, denen nach dem 24.02.2022 und vor dem 01.06.2022 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG oder eine entsprechende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 oder Abs. 4 erteilt wurde und bei denen weder eine erkennungsdienstliche Behandlung nach § 49 AufenthG oder § 16 AsylG durchgeführt, noch deren Daten nach § 3 Abs. 1 AZRG gespeichert wurden, wobei insofern diejenigen Personen ausgenommen sind, deren erkennungsdienstliche Behandlung nach § 49 AufenthG nicht vorgesehen ist.

2. Die Antragstellenden haben auch kein Asylgesuch geäußert und sich lückenlos rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, so dass sie auch im Übrigen nicht nach dem AsylbLG leistungsberechtigt und folglich nicht gemäß § 23 Abs. 2 SGB XII von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen sind.

3. Auch Leistungen nach dem SBG II können nicht vorrangig beansprucht werden (§ 21 Abs. 1 S. 1 SGB XII). Gemäß § 74 Abs. 2 S. 1 SGB II erhalten diejenigen Leistungen nach dem SGB II, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG beantragt haben und denen eine entsprechende Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 ausgestellt worden ist und die gemäß § 49 AufenthG vor Erteilung der Fiktionsbescheinigung erkennungsdienstlich behandelt worden sind. Die erkennungsdienstliche Behandlung ist dabei materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung und nicht lediglich Ordnungsvorschrift. Die Antragstellenden wurden vor der Erteilung jedoch nicht erkennungsdienstlich behandelt.

4. Ein Anspruch auf Leistungen nach SGB II scheitert im Übrigen an § 8 Abs. 2 SGB II, wonach Personen nur erwerbstätig sein können, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Das ist bei der Antragstellenden nicht der Fall. Insbesondere reicht die Fiktionswirkung eines Antrags nach § 24 AufenthG gemäß § 81 Abs. 3 AufenthG nicht aus, um von einer rechtlichen Möglichkeit der Erlaubniserteilung auszugehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Siehe auch:

Schlagwörter: Ukraine, Drittstaatsangehörige, Sozialleistungen, Fiktionswirkung, erkennungsdienstliche Behandlung, Fiktionsbescheinigung, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, SGB II, SGB XII, Antragstellung, Richtlinie zum vorübergehenden Schutz, Massenzustromsrichtlinie, Student, Ukraine-Krieg, Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung, UkraineAufenthÜV, Studierende,
Normen: SGB XII § 23 Abs. 1, SGB XII § 23 Abs. 2, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 3, AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 8, AufenthG § 24 Abs. 1, AufenthG § 81 Abs. 5, AufenthG § 81 Abs. 3, AufenthG § 81 Abs. 4, SGB XII § 21 Abs. 1 S. 1, SGB II § 74 Abs. 2 S. 1 , AufenthG § 49, SGB II § 8 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesem Maßstab ist der Senat hinreichend vom Vorliegen eines Anordnungsanspruchs der Antragsteller überzeugt.

Im streitgegenständlichen Zeitraum ab 21. Juni 2022 sind die Antragsteller nicht nach § 23 Abs. 2 SGB XII von Leistungen wegen einer Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG ausgeschlossen.

Hier gilt bereits die zum 31. Mai 2022 in Kraft getretene Änderung des § 1 AsylbLG durch Art. 4 Gesetz zur Regelung eines Sofortzuschlages und einer Einmalzahlung in den sozialen Mindestsicherungssystemen sowie zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes und weiterer Gesetze. Aufgrund der Änderung des § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG und der Anfügung des § 1 Abs. 1 Nr. 8 AsylbLG sind aus dem Personenkreis der aus der Ukraine geflüchteten Menschen nur noch diejenigen nach dem AsylbLG leistungsberechtigt, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes besitzen, die ihnen nach dem 24. Februar 2022 und vor dem 1. Juni 2022 erteilt wurde, oder eine entsprechende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Absatz 5 in Verbindung mit Absatz 3 oder Absatz 4 des Aufenthaltsgesetzes besitzen, die nach dem 24. Februar 2022 und vor dem 1. Juni 2022 ausgestellt wurde, und bei denen weder eine erkennungsdienstliche Behandlung nach § 49 des Aufenthaltsgesetzes oder nach § 16 des Asylgesetzes durchgeführt worden ist, noch deren Daten nach § 3 Absatz 1 des AZR-Gesetzes gespeichert wurden; das Erfordernis einer erkennungsdienstlichen Behandlung gilt nicht, soweit eine erkennungsdienstliche Behandlung nach § 49 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorgesehen ist.

Hierunter fallen die Antragsteller nicht, weil der Eingang des Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erst am 12. August 2022 bestätigt wurde und die Fiktionsbescheinigung der Antragstellerin zu 1) vom 12. August 2022 datiert. Die fehlende erkennungsdienstliche Behandlung ist nur ein weiteres einschränkendes Tatbestandsmerkmal.

Es gibt keinen Grund, zu einem vom klaren Wortlaut des § 1 Abs. 1 Nr. 8 AsylbLG und der mit § 74 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) korrespondierenden Gesetzessystematik abweichenden Ergebnis zu gelangen (siehe auch unten zu § 74 SGB II).

Die Antragsteller haben trotz ausdrücklicher Aufforderung kein Asylgesuch geäußert, so dass sie nicht nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 1a leistungsberechtigt sind.

Die Kontaktaufnahme zu einer deutschen Behörde, mit dem Wunsch im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, also ein von der förmlichen, das Verwaltungsverfahren einleitenden Antragstellung nach § 24 AufenthG zu unterscheidendes Aufnahmegesuch (vgl. auch die Zustimmung nach Art. 25 Abs. 2 Richtlinie 2001/55/EG), führt auch nicht zur analogen Anwendung von § 1 Abs. 1 Nr. 1a AsylbLG (so aber SG Frankfurt am Main, Beschluss vom 29. September 2022 – S 30 SO 87/22 ER –; unter Bezugnahme auf Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1 AsylbLG (Stand: 30. August 2022), Rn. 89.1 m.w.N.). Angesichts der jüngst angestellten, differenzierten Überlegungen des Gesetzgebers zur Verteilung der von § 24 AufenthG (potentiell) erfassten Personen auf die Leistungssysteme des AsylbLG und des SGB II sowie der bewusst weit gefassten Regelung der Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen (UkraineAufenthÜV, BAnz AT 8. März 2022 V1, dazu unten) bleibt für eine Analogie kein Raum. [...]

Die Antragsteller hielten sich im streitgegenständlichen Zeitraum nach § 2 UkraineAufenthÜV und nach § 81 Abs. 3 AufenthG lückenlos rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland auf, so dass sie auch nicht § 1 Abs. 1 Nr. 4 und Nr. 5 AsylbLG unterfallen. [...]

Hiernach unterfällt die Antragstellerin bis zur Stellung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV in der Ursprungsfassung. Der Senat geht mit einer für das Eilverfahren hinreichenden Gewissheit davon aus, dass sich die Antragstellerin am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten hat. [...]

Seit 12. August 2022 gilt ihr Aufenthalt nach § 81 Abs. 3 AufenthG als rechtmäßig. Beantragt ein Ausländer, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, die Erteilung eines Aufenthaltstitels, so gilt nach der vorgenannten Vorschrift sein Aufenthalt bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt. [...]

Auch Leistungen nach dem SGB II können nicht vorrangig beansprucht werden (§ 21 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Die Voraussetzungen des § 74 SGB II, der nach § 74 Abs. 1 Satz 2 SGB II einen Leistungsbezug auch jenseits der Voraussetzungen des § 8 SGB II ermöglicht, sind für den Zeitraum ab 12. August 2022 nicht erfüllt. Abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nummer 1 und 2 erhalten nach § 74 Abs. 1 Satz 1 SGB II  Leistungen nach diesem Buch auch Personen, die gemäß § 49 des Aufenthaltsgesetzes erkennungsdienstlich behandelt worden sind, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes beantragt haben und denen eine entsprechende Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 in Verbindung mit Abs. 3 des Aufenthaltsgesetzes ausgestellt worden ist. Die erkennungsdienstliche Behandlung ist nicht lediglich eine Ordnungsvorschrift, sondern vielmehr materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung; die Vorschrift zielt auf die bundeseinheitliche Anwendung des Aufenthaltsrechts [...]. Die Regelung korrespondiert in konsequenter Weise mit § 1 Abs. 1 Nr. 8 AsylbLG und der dort grundsätzlich anspruchseröffnenden fehlenden erkennungsdienstlichen Behandlung, freilich mit anderen Anwendungszeiträumen. [...]

Hier fehlt es an einer erkennungsdienstlichen Behandlung vor der Erteilung der Fiktionsbescheinigung. Die Ausnahmevorschriften des § 74 Abs. 3 und 4 SGB II sind offensichtlich nicht erfüllt.

Im Übrigen scheitert ein Anspruch nach dem SGB II an § 8 Abs. 2 SGB II. Hiernach können Ausländerinnen und Ausländer nur erwerbstätig sein, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. [...]

Für den Zeitraum vor dem 12. August 2022 sind die Voraussetzungen nicht erfüllt, da noch gar kein Titel beantragt wurde, zu dem eine Arbeitserlaubnis beantragt werden kann. Für den Zeitraum danach reicht die Fiktionswirkung der Antragstellung auf einen Titel gemäß § 24 AufenthG nach § 81 Abs. 3 AufenthG nicht aus, um von einer rechtlichen Möglichkeit der Erlaubniserteilung i.S.d. § 8 Abs. 2 SGB II ausgehen zu können. [...]

Der Leistungsanspruch richtet sich mithin nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB XII: Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten.

Leistungsbeschränkungen oder Ausschlüsse nach § 23 SGB Abs. 3 XII sind nicht ersichtlich; insbesondere hielt sich die Antragstellerin zu 1) zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums schon länger als drei Monate in der Bundesrepublik Deutschland auf. Es handelt sich um eine gebundene Entscheidung. Überlegungen zur Frage der Verfestigung des Aufenthalts oder zur Reduzierung des Anspruches auf Leistungen für Fahrtkosten haben bei Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt nach Satz 1 keinen Platz, sondern könnten allenfalls nach den hier systematisch nicht einschlägigen Sätzen 3 und 4 des § 23 Abs. 1 SGB XII Berücksichtigung finden.

Ein Bedarf besteht hinsichtlich der Hilfen zum Lebensunterhalt einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen. [...]