VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 13.10.2022 - A 4 S 2182/22 - asyl.net: M31047
https://www.asyl.net/rsdb/m31047
Leitsatz:

Vulnerabilität gemäß Art. 21 Aufnahme-RL nicht von der Vorlage qualifizierter Atteste abhängig:

"Der unionsrechtliche Begriff der "Vulnerabilität" und die diesbezügliche richterliche Bewertung sind im Dublin- oder Drittstaatenfall nicht durch § 60a Abs. 2c AufenthG [wonach vermutet wird, dass einer Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen, wenn Erkrankungen nicht durch qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht werden] definiert oder beschränkt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, besonders schutzbedürftig, internationaler Schutz in EU-Staat, Vulnerabilität, Attest, qualifizierte ärztliche Bescheinigung, Aufnahmerichtlinie,
Normen: RL 2013/33/EU Art. 21, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 60a Abs. 2c, RL 2011/95/EU Art. 20 Abs. 3
Auszüge:

[...]
Der Senat entscheidet seit Jahren in ständiger Rechtsprechung - in, soweit ersichtlich, Übereinstimmung mit der diesbezüglich ergangenen, mittlerweile einheitlichen bundesweiten obergerichtlichen Rechtsauffassung -, dass nicht vulnerablen, gesunden und arbeitsfähigen alleinstehenden volljährigen Personen in Bulgarien derzeit keine Verelendung im Sinne von Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK droht. [...]
Bezüglich vulnerabler Personen hingegen kann im Einzelfall anderes gelten.

Ob eine Person der Gruppe der vulnerablen Personen zuzuordnen ist, ist im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem auch in Dublin- oder Drittstaatenfällen unter Berücksichtigung insbesondere von Art. 21 der Aufnahme-RL 2013/33/EU zu bestimmen. Danach berücksichtigen die Mitgliedstaaten "die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z.B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien". Vergleichbares ist in Art. 20 Abs. 3 der Anerkennungs-RL 2011/95/EU geregelt; nach Absatz 4 der Norm muss diesbezüglich ausdrücklich eine "Einzelprüfung" durchgeführt werden. Auch hieraus ergibt sich, dass für die Frage der Vulnerabilität immer auf die individuellen Umstände der Person abzustellen ist.

Der Begriff der "speziellen Schutzbedürftigkeit" bzw. "Vulnerabilität" ist mithin im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem selbst verankert und damit Unionsrecht. Auch unbestimmte Rechtsbegriffe des Unionsrechts genießen Anwendungsvorrang vor grundsätzlich dem gesamten nationalen Recht und müssen im Sinne des "effet utile" europaeinheitlich praktische Wirksamkeit entfalten (vgl. schon EuGH, Urteil vom 09.03.1978, Rs. C-106/77 <Simmenthal II>; Bergmann, Handlexikon der EU, 6. Aufl. 2022, S. 1095 f., m.w.N.). Hieraus ergibt sich, dass der unionsrechtliche Begriff der "Vulnerabilität" nicht durch eine nationale Norm in einem Mitgliedstaat in bestimmter Hinsicht definiert werden kann. Dementsprechend kann weder § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG regeln, dass unionsrechtlich zu vermuten ist, dass oder wann ein Antragsteller im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich als "nicht-vulnerabel" anzusehen ist, noch kann § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG bestimmen, wie die unionsrechtlich vorgeschriebene Einzelfallbewertung der "Vulnerabilität" nach Art. 21 der Aufnahme-RL 2013/33/EU bzw. Art. 20 der Anerkennungs-RL 2011/95/EU europaweit oder auch nur in Deutschland einschränkend zu erfolgen hat. [...]

Damit aber kann auch der durch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO normierte Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung bei Auslegung und Bewertung des unionsrechtlichen Begriffes der "Vulnerabilität" nicht durch § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG derart eingeschränkt sein, dass eine Konstellation gemäß Art. 21 der Aufnahme-RL 2013/33/EU bzw. Art. 20 der Anerkennungs-RL 2011/95/EU nur bejaht werden dürfe, wenn eine in Deutschland nationalgesetzlich vorgeschriebene qualifizierte ärztliche Bescheinigung vorgelegt werde. Dies gilt ganz abgesehen davon, dass der ausländerrechtliche § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG nur die gesundheitliche Situation bezüglich einer konkreten Abschiebung und damit die Reisefähigkeit betrifft. Die Norm hat mithin sowohl eine inhaltlich begrenztere Situation als auch einen ganz anderen zeitlichen Horizont im Blick als es bei der Frage der "Vulnerabilität" gemäß Art. 3 EMRK/Art. 4 GRCh in Dublin- und Drittstaatenfällen der Fall ist. [...]