Behinderung bei Ausweisung und Einreiseverbot angemessen zu berücksichtigen:
1. Die Nachteile, die Menschen aufgrund einer Behinderung durch eine Ausweisung entstehen, sind gemäß § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG angemessen zu berücksichtigen. Aufgrund von Verfassungs- (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG) und Konventionsrecht (UN-Behindertenrechtskonvention) trägt der Staat eine besondere Verantwortung für Menschen mit Behinderung.
2. Die Bestimmung der Frist eines Einreise- und Aufenthaltsverbots erfolgt gemäß § 11 Abs. 3 S. 1 AufenthG in einer zweistufigen Ermessensausübung, wobei zunächst die Prognose anzustellen ist, wie lange das Verhalten der betroffenen Person das öffentliche Interesse an einer Gefahrenabwehr durch das Fernhalten vom Bundesgebiet zu tragen vermag und dieser Prognose sodann die Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die private Lebensführung der betroffenen Person gegenüberzustellen sind. Die besondere Verantwortung des Staates für Menschen mit Behinderungen ist auch hier zu berücksichtigen.
3. Es stellt sich die Frage, ob in Fällen, in denen die Beendigung des Aufenthalts einer ausgewiesenen Person auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird, gemäß § 11 Abs. 3 S. 1 AufenthG auch dem Interesse der betroffenen Person an einer angemessenen Bleibeperspektive Rechnung zu tragen ist. Dann käme in Betracht, ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 38 LVwVfG mit der Zusicherung zu verbinden, es nach gewisser Dauer aufzuheben, wenn die betroffene Person das Bundesgebiet bis dahin nicht verlassen und sich nicht erneut strafbar gemacht hat.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 - asyl.net: M30643)
Siehe auch:
Maren Gag und Barbara Weiser: "Leitfaden zur Beratung von Menschen mit einer Behinderung im Kontext von Migration und Flucht"
[...]
bb) Mit seinem Zulassungsantrag kritisiert der Kläger die vom Verwaltungsgericht der richterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 VwGO) zugrunde gelegte Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Sowohl bei der Einschätzung der Frage, ob von seinem Aufenthalt im Bundesgebiet eine nach § 53 Abs. 1 AufenthG relevante Gefahr ausgeht, als auch bei der nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG gebotenen Interessenabwägung habe es die für ihn sprechenden Gesichtspunkte nicht hinreichend berücksichtigt. Die hierauf bezogenen Darlegungen des Klägers sind jedoch nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils zu begründen. [...]
(aa) Der Kläger beanstandet in diesem Zusammenhang zunächst, dass das Verwaltungsgericht im Rahmen der Interessenabwägung bei der Gewichtung seines Bleibeinteresses den verfassungs- und konventionsrechtlichen Schutz von Menschen mit Behinderung nicht ausreichend berücksichtigt habe. Dies betreffe die Diskriminierungsverbote nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und nach der UN-Behindertenrechtskonvention (Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Gesetz vom 21.12.2008, BGBl. II S. 1419, für Deutschland in Kraft seit 26.03.2009, BGBl. II S. 2009, 812). Danach sei es unzulässig, ihm - dem Kläger - im Rahmen der Interessenabwägung nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG Defizite vorzuhalten, die auf seine Behinderung zurückzuführen seien.
Diese Argumentation des Klägers lässt unberücksichtigt, dass weder Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG noch Art. 5 Abs. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention noch deren Art. 18 Abs. 1 oder Art. 19 Buchst. a eine Verpflichtung der Ausländerbehörden und Gerichte begründen, das spezialpräventiv auf die Abwehr von Gefahren gerichtete öffentliche Interesse an der Ausweisung eines straffälligen Ausländers mit Behinderungen im Rahmen der nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vorzunehmenden Interessenabwägung per se mit geringerem Gewicht anzusetzen, als dasjenige an der Ausweisung eines straffälligen Ausländers ohne Behinderungen. Ebenso wenig gebieten es die genannten verfassungs- und konventionsrechtlichen Vorschriften, das Bleibeinteresse eines straffälligen Ausländers mit Behinderungen im Rahmen der Interessenabwägung per se höher zu gewichten, als dasjenige eines straffälligen Ausländers ohne Behinderungen. Denn sie schaffen kein Sonderrecht für Menschen mit Behinderungen (so zur UN-Behindertenrechtskonvention ausdrücklich die Denkschrift der Bundesregierung zu dem Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, BT-Drs. 16/10808, S. 46) und begründen für Ausländer mit Behinderungen auch keine Ansprüche, sich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten (OVG Hamburg, Urteil vom 25.08.2016 - 3 Bf 153/13 - juris Rn. 118 f.). Sie untersagen vielmehr in erster Linie spezifische, benachteiligende Regelungen für Menschen mit Behinderungen. Eine derart spezifische Regelung enthält das Aufenthaltsgesetz aber nicht. Es erfasst vielmehr in gleicher Weise wie Menschen ohne Behinderungen auch Menschen mit Behinderungen, enthält in einzelnen Bereichen Privilegierungen von Menschen mit Behinderungen (vgl. etwa § 9 Abs. 2 Satz 3, § 9c Satz 1 Nr. 2, § 25b Abs. 3, § 28 Abs. 1 Satz 5, § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2, § 35 Abs. 4, § 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, § 104a Abs. 1 Satz 5 AufenthG), führt aber weder direkt noch indirekt zu einer Diskriminierung aufgrund der Behinderung (vgl. zu Einzelheiten OVG Hamburg, Urteil vom 25.08.2016 - 3 Bf 153/13 - juris Rn. 119 und NdsOVG, Beschluss vom 23.02.2015 - 8 PA 13/15 - juris Rn. 17). Dies entbindet die Ausländerbehörden und Gerichte allerdings nicht von ihrer Aufgabe, Nachteile einer Ausweisung, die sich für den betroffenen Ausländer gerade aufgrund seiner Behinderungen ergeben, in den Blick zu nehmen, sie im Rahmen der Interessenabwägung mit angemessenem Gewicht zu berücksichtigen und dabei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Staat kraft Verfassungs- und Konventionsrechts eine besondere Verantwortung für Menschen mit Behinderungen trägt (vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfG, Beschluss vom 30.01.2020 - 2 BvR 1005/18 - juris Rn. 37 f. und NdsOVG, Beschluss vom 12.12.2017 - 13 PA 222/17 - juris Rn. 12). Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht diese Aufgabe erkannt (vgl. Seiten 20 bis 23 der Ausfertigung des angegriffenen Urteils) und aus Sicht des beschließenden Senats auch in einer Weise erfüllt, die mit Blick auf § 108 Abs. 1 und § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO keinen Anlass gibt, die Berufung zuzulassen. [...]
3. Der Kläger hat dagegen mit einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Begründung dargelegt, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils bestehen, soweit dieses die in den Ziffern 5 und 6 der streitgegenständlichen Verfügung vom 11.12.2018 getroffenen Regelungen betrifft. Bei diesen handelt es sich um Anordnungen zweier Einreise- und Aufenthaltsverbote von bestimmter Dauer (vgl. hierzu nur BVerwG, Urteil vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 19 mit weiteren Nachweisen). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach Ziffer 5 der Verfügung knüpft an die Ausweisung des Klägers an, dasjenige nach Ziffer 6 an die Durchführung der dem Kläger angedrohten Abschiebung (§ 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). In Würdigung des klägerischen Vortrags und mit Blick auf die jüngere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ermessensausübung nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG bei der Bestimmung der Länge der Frist eines Einreise- und Aufenthaltsverbots (vgl. BVerwG, Urteile vom 16.02.2022 - 1 C 6.21 - juris Rn. 57 und vom 07.09.2021 - 1 C 47.20 - juris Rn. 15 ff. in Fortentwicklung der Rechtsprechung in BVerwG, Beschluss vom 11.11.2013 - 1 B 11.13 - juris Rn. 3 und Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 - juris Rn. 42 f.) hält der beschließende Senat an seiner im Eilrechtsschutzverfahren vertretenen Auffassung nicht mehr fest, dass die angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbote keinen durchgreifenden Bedenken begegneten (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 23.06.2020 - 11 S 990/19 - juris Rn. 42).
Nach der aufgezeigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich der beschließende Senat anschließt, begründet § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG das Gebot einer zweistufigen Ermessensausübung in Bezug auf die Be-stimmung der angemessenen Frist für die Dauer eines Einreise- und Aufenthaltsverbots. In einem ersten Schritt bedarf es der prognostischen Einschätzung der Ausländerbehörde, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots veranlassenden Auswei-sung oder Abschiebung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an einer Gefahrenabwehr durch Fernhalten des Ausländers vom Bundesgebiet zu tragen vermag. In der zweiten Stufe sind dem gefahrenabwehrrechtlich geprägten öf-fentlichen Interesse die Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die private Lebensführung des Ausländers gegenüberzustellen. Dieser zweite Prüfungsschritt zielt im Lichte von Art. 6 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 EU-GR-Charta sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf eine Begrenzung der einschneidenden Folgen eines Einreise- und Aufenthaltsverbots für das Familien- und Privatleben des Betroffenen. Auch die oben bereits angesprochene besondere Verantwortung des Staates für Menschen mit Behinderungen dürfte hier im Lichte der objektiven Wertentscheidung des Verfassungsgebers in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu berücksichtigen sein. Der zweite Prüfungsschritt bezweckt zudem, dem Interesse des Ausländers an einer angemessenen Rückkehrperspektive bei aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen Rechnung zu tragen. Deshalb ist das Gewicht des individuellen Interesses, sich wieder im Bundesgebiet aufhalten zu dürfen, bei der Bemessung der Frist zu berücksichtigen (vgl. zu Einzelheiten BVerwG, Urteil vom 07.09.2021 - 1 C 47.20 - juris Rn. 17 ff.). Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung stellt sich die Frage, ob in Fällen, in denen die Beendigung des Aufenthalts eines ausgewiesenen Ausländers im Bundesgebiet auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird, die Notwendigkeit besteht, bei der inhaltlichen Ausgestaltung der nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gebotenen Einreise- und Aufenthaltsverbote nicht dem Interesse des Ausländers an einer angemessenen Rückkehrperspektive, sondern in geeigneter Weise seinem Interesse an einer angemessenen Bleibeperspektive Rechnung zu tragen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Frist für den Lauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots erst mit der Ausreise beginnt (§ 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Zugleich spricht manches für die Annahme, dass einem Erfordernis, einem ausgewiesenen Ausländer eine angemessene Bleibeperspektive aufzuzeigen, nicht bereits durch die Existenz des Verfahrens nach § 11 Abs. 4 AufenthG Genüge getan ist. Sollte diese Annahme zutreffen, käme es in Betracht, den oben angesprochenen Grund- und Menschenrechten in der Weise Rechnung zu tragen, dass ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Zusicherung (§ 38 LVwVfG) verbunden wird, es nach gewisser Dauer aufzuheben, wenn der Ausländer bis dahin das Bundesgebiet nicht verlassen und sich nicht erneut strafbar gemacht hat. [...]