OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 07.10.2022 - 2 LA 49/22 - asyl.net: M31037
https://www.asyl.net/rsdb/m31037
Leitsatz:

Ausweisung trotz positiver Prognose der behandelnden Psychologin und drohender irreparabler Schädigung der Eltern-Kind-Beziehung:

"1. Zu den Voraussetzungen, unter denen Verwaltungsgerichte in Ausweisungsverfahren von der Einschätzung der Wiederholungsgefahr durch eine sachverständige Zeugin (hier: behandelnde Dipl.-Psychologin) abweichen dürfen.

2. Die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt deutet nicht auf einen Wegfall oder eine signifikante Minderung der ausweisungsrelevanten Wiederholungsgefahr hin, sondern spricht für deren Vorliegen.

3. Besteht die Gefahr der Begehung einer größeren Anzahl schwerwiegender Eigentumsdelikte, kann das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse auch dann überwiegen, wenn eine irreparable Schädigung einer Eltern-Kind-Beziehung droht.

4. Ist die Klage gegen eine Ausweisung entscheidungsreif, hat das Gericht zu entscheiden und darf das Verfahren nicht bis zum Abschluss einer Drogentherapie oder bis zu einer Entscheidung über die Aussetzung eines Strafrestes oder einer Maßregel zur Bewährung aussetzen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Drogenabhängigkeit, Therapie, Psychologe, Psychologin, sachverständige Zeugin, sachverständiger Zeuge, Schutz von Ehe und Familie, Kleinkind, Trennung, Straftat, Wiederholungsgefahr, Prognose, Eltern-Kind-Verhältnis, Kindeswohl,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 53 Abs. 3, ARB 1/80 Art. 14, StGB § 64, StGB § 67d, VwGO § 108 Abs. 1 S. 1, VwGO § 94, EMRK Art. 8 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

I. Der Kläger wendet sich gegen die Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland, die Anordnung eines dreijährigen Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie die Androhung der Abschiebung in die Türkei. [...]

Mit Urteil vom 24.01.2022 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Die Ausweisung sei nach § 53 Abs. 1, 3 AufenthG i.V.m. Art. 14 ARB 1/80 rechtmäßig. Das persönliche Verhalten des Klägers stelle gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre; die Ausweisung sei zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich.

Es bestehe eine erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut schwerwiegende Eigentumsdelikte begehe. [...]

II. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 und 5 VwGO sind nicht dargelegt bzw. liegen nicht vor.

1. Der Kläger legt ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht erfolgreich dar. [...]

aa) Die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts ist nicht deshalb ernstlich zweifelhaft, weil das Verwaltungsgericht die vom Kläger ausgehende Gefahr höher einschätzt als es die in der mündlichen Verhandlung als Zeugin vernommene Diplom-Psychologin getan hat, die den Kläger im Maßregelvollzug behandelt.

(1) Das Verwaltungsgericht musste der Einschätzung der Psychologin nicht deshalb folgen, weil die Mitglieder der Kammer keine psychologische Sachkunde besitzen. Die Verwaltungsgerichte können insbesondere bei wiederholten Straftaten die Prognose zur Wiederholungsgefahr im Regelfall aufgrund eigener Sachkunde treffen [...]. Der Zulassungsantrag legt nicht dar, wieso vorliegend ein Ausnahmefall gegeben sein soll. Zudem ist bezogen auf die Fähigkeit, die vom Kläger ausgehende Gefahr längerfristig zu prognostizieren, auch die Sachkunde der Zeugin begrenzt. Sie hat vor dem Verwaltungsgericht ausgesagt: "Es ist so, dass wir keine Statistiken dazu erheben, ob unsere Patienten nach einer Entlassung rückfällig werden. Wir sehen die dann noch in der Nachsorge. Danach haben wir in der Regel, es sei denn sie werden uns wieder zugewiesen, keinen Kontakt mehr mit ihnen." [...]

(2) Die von der Zeugin geschilderten konkreten Tatsachen zur jüngeren Entwicklung des Klägers hat das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung als zutreffend zugrunde gelegt. Es hat aus ihnen lediglich andere Schlüsse für die Prognose der Wiederholungsgefahr gezogen als die Zeugin. Dies hat das Verwaltungsgericht nachvollziehbar begründet. [...] Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht ausschließlich nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des  gewonnenen Überzeugung. Der insoweit eröffnete Wertungsrahmen des entscheidenden Gerichtes findet seine Grenze lediglich in der Forderung, dass die aus den Entscheidungsgründen erkennbare Argumentation rational, d. h. willkürfrei sowie ohne gedankliche Brüche und Widersprüchebegründet sein muss und nicht gegen Denkgesetze (Logik), Naturgesetze oder zwingende Erfahrungssätze verstoßen darf. [...]

(3) Der Hinweis des Zulassungsantrags auf den bisherigen Verlauf des Maßregelvollzugs (insbesondere die inzwischen gewährten Lockerungen und die Erwerbstätigkeit) stellt die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nicht schlüssig in Frage. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts ist in ihrem Beschluss vom 26.04.2022, der maßgeblich auf einer Stellungnahme der Klinik vom 03.03.2022 beruht, ausdrücklich der Auffassung, dass eine Entlassung des Klägers zur Bewährung derzeit nicht in Betracht komme (vgl. S. 2, dritter Absatz von oben des Beschl. v. 26.04.2022). Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern über die Aussetzung des Strafrestes bzw. der Unterbringung zur Bewährung kommt im Ausweisungsverfahren tatsächliche Bedeutung im Sinne einer Indizwirkung zu. Kommen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei der ihnen obliegenden aufenthaltsrechtlichen Prognose zu einer von dieser Indizwirkung abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr, bedarf es hierfür einer substantiierten, das heißt eigenständigen Begründung [...]. Bei konsequenter Anwendung der vorgenannten Grundsätze kann sich die Indizwirkung nicht auf positive Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern beschränken; sie kommt negativen Entscheidungen in gleicher Weise zu [...]. Vorliegend sieht der Senat keinen Grund, die vom Kläger ausgehende Gefahr geringer zu bewerten als es die Strafvollstreckungskammer bei ihrer Entscheidung, den Kläger nicht auf Bewährung zu entlassen, getan hat. Zwar hat die Strafvollstreckungskammer ihm "wesentliche Fortschritte" und "positive Veränderungen" attestiert, so dass die Therapie "konkrete Erfolgsaussicht" habe und fortzusetzen sei. Die Anordnung der Fortdauer der Maßregel hat für die ausweisungsrechtliche Gefahrenprognose indes nicht die Indizwirkung, die einer Aussetzung zur Bewährung zukäme. Die "hinreichend konkrete Aussicht" eines Therapieerfolgs, die das Gesetz für eine Anordnung des Fortdauerns verlangt (vgl. § 67d Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 64 Satz 2 StGB), ist nicht gleichbedeutend mit der Erwartung, dass "der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird", wie sie für eine Aussetzung zur Bewährung erforderlich ist (vgl. § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB). [...]

b) Der Vortrag des Klägers im Zulassungsverfahren stellt auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung sei verhältnismäßig, nicht schlüssig in Frage. [...]

cc) Der Vortrag des Klägers, die Beziehung zu seinem jüngsten, im Jahr 2017 geborenen Kind werde durch die Ausweisung und das dreijährige Einreise- und Aufenthaltsverbot unwiderruflich zerstört, stellt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, das Interesse an einer Fortsetzung des Familienlebens in Deutschland müsse hinter das öffentliche Interesse an der Verhinderung weiterer schwerwiegender Eigentumsdelikte zurücktreten, nicht schlüssig in Frage. Dem Zulassungsantrag ist zuzugeben, dass die Gefahr nicht von der Hand zu weisen ist, dass eine dreijährige Trennung, in der Kontakt nur durch Fernkommunikation und Besuche in den Ferien aufrechterhalten werden kann, bei einem fünf Jahre alten Kind zu einer nachhaltigen Entfremdung vom Vater führen könnte. Dadurch werden jedoch weder das Überwiegen des Ausweisungsinteresses noch die Verhältnismäßigkeit der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf drei Jahre in Frage gestellt. Familiären Belangen und dem Kindeswohl kommt zwar ganz erhebliches Gewicht, aber weder nach Völkerrecht noch nach Europäischen Grund- und Menschenrechten oder nach Verfassungsrecht unbedingter Vorrang vor entgegenstehenden öffentlichen Sicherheitsinteressen zu [...]. Der Kläger hat eine Vielzahl von Eigentumsdelikten begangen, davon viele in qualifizierter Form oder unter Erfüllung von Regelbeispielen für einen besonders schweren Fall. Der Zulassungsantrag stellt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass bei einem Verbleib des Klägers in Deutschland ernsthaft mit der Begehung weiterer derartiger Straftaten gerechnet werden muss, nicht schlüssig in Frage (s.o. unter a). Der Schutz von Vermögen und Eigentum vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter ist nicht nur ein rein wirtschaftliches Interesse, sondern essentiell für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft und den öffentlichen Frieden [...]. Daher müssen die familiären Belange vorliegend hinter das öffentliche Sicherheitsinteresse zurücktreten, selbst wenn nicht auszuschließen ist, dass dadurch die Beziehung zwischen dem Kläger und seinem jüngsten Kind einen irreparablen Schaden erleidet. [...]

2. Die Berufung ist auch nicht gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen. [...]

(2) Das Verfahren war vom Verwaltungsgericht nicht auszusetzen (§ 94 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass über seinen weiteren Aufenthalt in Deutschland erst entschieden wird, wenn seine Drogentherapie abgeschlossen ist und sich die Prognose dadurch möglicherweise verbessert hat [...]. Dies gilt nicht nur im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, sondern auch im Hauptsacheverfahren. Die Gerichte sind im Interesse aller Beteiligten – auch der Beklagtenseite – gehalten, Verfahren unparteiisch zu gestalten und in angemessener Zeit abzuschließen. Ist eine Klage entscheidungsreif, wäre es mit dem Anspruch beider Beteiligter auf ein faires Verfahren und eine Entscheidung in angemessener Zeit nicht zu vereinbaren, wenn die Entscheidung hinausgezögert würde, weil sich die Sachlage zu einem späteren Entscheidungszeitpunkt für einen der Beteiligten möglicherweise günstiger darstellen könnte. Vorliegend hat das Verwaltungsgericht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gebildet, dass die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1, 3 AufenthG für eine Ausweisung des Klägers vorliegen. Damit hatte es in diesem Zeitpunkt auch zu entscheiden. Ein Ausnahmefall, in dem ein nachhaltiger Erfolg der Therapie aufgrund konkreter Anhaltspunkte besonders wahrscheinlich erscheint (vgl. dazu OVG Bremen, Beschl. v. 01.072021 – 2 LA 189/21, juris Rn. 21; Beschl. v. 27.10.2020 – 2 B 105/20, juris Rn. 19), liegt hier nicht vor. [...]