OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 13.05.2022 - 3 A 844/20 - asyl.net: M31029
https://www.asyl.net/rsdb/m31029
Leitsatz:

Keine Ausweisung trotz schwerer Beschaffungskriminalität:

1. Generalpräventive Gründe können eine Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG tragen, um potentielle Täter*innen in einer vergleichbaren Situation von Taten ähnlicher Arte und Schwere abzuhalten. Die generalpräventive Ausweisung muss in jedem Einzelfall den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.

2. Handelt es sich bei den verübten Straftaten um sog. Hangtaten, also Taten, denen kein rational gesteuertes Verhalten zugrunde liegt (hier: Beschaffungskriminalität aufgrund von Drogensucht), scheidet eine generalpräventive Wirkung aus, weil Täter*innen in einer vergleichbaren Situation ebenfalls nicht rational gesteuert handeln und sich somit durch die Ausweisung der betroffenen Person nicht beeindrucken lassen würden.

3. Eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen widerspräche hier auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da die betroffene Person ihre Drogensucht erfolgreich therapiert und sich resozialisiert hat und ein Absehen von der Ausweisung das Signal sendet, dass entsprechende Anstrengungen auch im Aufenthaltsrecht honoriert werden.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Berlin, Urteil vom 12.11.2019 - 19 K 304.18 - asyl.net: M27901)

Schlagwörter: Drogendelikt, Ausweisung, Beschaffungskriminalität, Drogenabhängigkeit, Generalpräventiver Zweck,
Normen: AufenthG § 53 Abs. 1, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und sich an-schließend auch außerhalb des Straf- und Maßregelvollzugs für einen nicht völlig unerheblichen Zeitraum bewährt, so dass mit der erforderlichen Sicherheit auf einen Einstellungswandel und eine innerlich verfestigte Verhaltensänderung geschlossen und eine Wiederholungsgefahr verneint werden kann [...]. Inzwischen [...] lebt der Kläger, seit dem Bezug einer eigenen Wohnung im Rahmen der letzten Therapiephase am ... 2018, zwar noch unter Führungsaufsicht und Bewährung stehend, seit knapp drei Jahren und acht Monaten in der Gesellschaft und seit über zwei Jahren auch als Entlassener aus dem Maßregelvollzug, ohne dass es konkrete Anhaltspunkte für einen Rückfall in die Drogensucht oder gar die Begehung von Straftaten gibt. [...]

2.2 Soweit die Beklagte die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass generalpräventive Gründe die Ausweisung des Klägers nicht tragen würden, mit ihrem Zulassungsvorbringen in Zweifel zieht, legt sie auch insoweit zumindest im Ergebnis keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung dar. Dabei kann der Senat letztlich dahinstehen lassen, ob die vom Kläger begangenen Taten grundsätzlich zur Annahme generalpräventiver Erwägungen herangezogen werden können und auf welche Zielgruppe für diese abzustellen ist, denn unabhängig vom Eingreifen generalpräventiver Gesichtspunkte muss sich die Ausweisung auch im konkreten Einzelfall als verhältnismäßig erweisen, wofür auch unter Zugrundelegung des Zulassungsvorbringens vorliegend jedoch nichts ersichtlich ist.

Entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Senats kann eine Ausweisung auch auf allein generalpräventive Erwägungen gestützt werden [...], sofern das generalpräventive Ausweisungsinteresse zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt noch aktuell vorhanden ist. Dabei erfordert die generalpräventive Ausrichtung einer Ausweisung die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der in § 53 Abs. 1 AufenthG aufgeführten Schutzgüter eintreten wird [...]. Das ist dann der Fall, wenn die Ausweisung nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten [...], was voraussetzt, dass potentielle Täter zu einer hinreichend rationalen Steuerung ihres Verhaltens überhaupt fähig sind [...]. Grundsätzlich kommt aber eine auf generalpräventive Erwägungen gestützte Ausweisung auch bei Rauschgiftdelikten in Betracht [...]. Zudem muss eine generalpräventiv begründete Ausweisung in jedem Einzelfall zusätzlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren [...].

Ob, ausgehend von diesen Maßstäben, eine Ausweisung des Klägers andere Ausländer in einer vergleichbaren Situation von der Begehung gleicher oder ähnlicher Straf-taten abhalten würde, bedarf letztlich keiner Entscheidung, weil sich seine Ausweisung jedenfalls als nicht als verhältnismäßig erweist.

Nach den unangegriffen gebliebenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts handelt es sich bei den vom Kläger verübten Straftaten um sogenannte „Hangtaten“, worunter das Verwaltungsgericht - zutreffend - Taten versteht, denen kein rational gesteuertes Verhalten zugrunde liegt. Dies lässt es aus Sicht des Senats wenig wahrscheinlich erscheinen, dass sich andere Ausländer, die sich in einer vergleichbaren Situation wie der Kläger befinden und deren Steuerungsfähigkeit aufgrund des Drogenkonsums als erheblich eingeschränkt zu bewerten ist, von der Ausweisung des Klägers in einem Maß beeindrucken lassen würden, dass sie von Taten, die der Beschaffungskriminalität zuzuordnen sind, absehen würden. Denn wer sich wie der Kläger zum Tatzeitraum in einer Suchtmittelabhängigkeit solchen Ausmaßes befindet, dass er sein Verhalten im Wesentlichen nicht mehr rational steuern kann, sondern dessen primäres Lebens-ziel nur noch in der Suchtbefriedigung besteht, bei dem ist wohl eher nicht zu erwarten, dass er sich von einer drohenden Ausweisung ernsthaft in einem solchen Umfang beeindrucken lassen würde, dass er von der Begehung von Straftaten Abstand nehmen würde [...].

Soweit die Beklagte meint, mit der Ausweisung solle bewirkt werden, dass andere Ausländer schon nicht mit dem Drogenkonsum beginnen und demzufolge dann auch nicht in den Bereich der Beschaffungskriminalität abrutschen können, verkennt sie wohl den vom Gesetzgeber vorgegebenen maßgeblichen Anknüpfungspunkt für die Frage der generalpräventiv wirkenden Ausweisung [...]. Denn dieser liegt nicht im Drogenkonsum des Klägers an sich, sondern allein in den zu dessen Finanzierung begangenen Straftaten. [...]

Darüber hinaus würde sich eine Ausweisung des Klägers inzwischen auch nicht mehr als verhältnismäßig erweisen. Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Kläger mehr-fach und zuletzt am ... 2015 wegen Drogendelikten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde und damit in hohem Maß straffällig geworden ist. Es handelt sich dabei um Straftaten, die auch besonders gefährlich sind und die Leib und Leben einer Vielzahl von Menschen in nicht unerheblichen Maße gefährden und an deren nachhaltiger Bekämpfung auch von Verfassungs wegen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ein erhebliches Interesse besteht. Wie schon vom Verwaltungsgericht ausgeführt, sind aber auch die seit dieser Verurteilung eingetretenen Umstände zu berücksichtigen, die sämtlich zu Gunsten des Klägers sprechen und anhand derer diesem derzeit eine gelungene Resozialisierung zu attestieren ist. [...]

Dieser lebt seit knapp 19 Jahren in der Bundesrepublik, wobei nicht zu verkennen ist, dass er sich als junger Mensch über einen sehr langen Zeitraum hier nicht integrieren konnte, sondern vielmehr drogensüchtig war. Er ist auch nicht als Kleinkind in die Bundesrepublik gekommen, sondern hat seine Schul- und Ausbildung vielmehr in der Ukraine absolviert. Seit seiner letzten strafrechtlichen Verurteilung hat sich der Kläger aber in einem Sinn entwickelt, der es widersinnig erscheinen ließe, ihm nunmehr mit seiner Ausweisung zu attestieren, dass an ihm ein Exempel zu statuieren sei, weil gerade er mit seinem Verhalten einen negativen Einfluss auf potentielle Verhaltensweisen anderer Ausländer hätte. Der Kläger hat sich seit der letzten Verurteilung vielmehr allen Maßnahmen und Anordnungen gebeugt und in erheblichen Umfang an sich und seinem Umfeld gearbeitet. Dass all diese Bemühungen aus seiner Sicht in gewissen Maß nutzlos erscheinen würden, sollte er nun ausgewiesen werden, er-scheint nachvollziehbar und könnte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch eine Lebens- und Sinnkrise auslösen, welche die vergangenen Bemühungen zunichtemachen könnte. Darüber hinaus würde mit einem Absehen von der Ausweisung auch das lohnenswerte sozial- und gesellschaftspolitische Signal ausgesendet, dass sich eine Resozialisierung und eine erfolgreiche Therapie nicht nur aus kriminalpolitischen Erwägungen heraus lohnt, sondern entsprechende Anstrengungen in besonderen Einzelfällen auch im Ausländerrecht honoriert werden können, indem dessen ordnungs- und sicherheitspolitische Interessen im Einzelfall zurücktreten können, wenn es ihrer Durchsetzung nicht mehr bedarf. Entsprechende Motivationen können schließlich auch bei anderen Ausländern einen nicht unerheblichen Beitrag leisten, zukünftige Straftaten zu verhindern; wirken sich mithin unmittelbar positiv auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus und sprechen daher gerade gegen die Notwendigkeit einer Ausweisung in entsprechenden Konstellationen, in denen der vormalige Straftäter als vollständig resozialisiert anzusehen sind. [...]