OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.09.2022 - 18 E 494/22 - asyl.net: M31024
https://www.asyl.net/rsdb/m31024
Leitsatz:

Zum Rechtsschutz im Eilverfahren bei einer "Duldung light" gemäß § 60b AufenthG:

1. Der Anrechnungsausschluss von Vorduldungszeiten gemäß § 60b Abs. 5 S. 1 AufenthG ist ebenso wie das Erwerbstätigkeitsverbot nach § 60b Abs. 5 S. 2 AufenthG und die Wohnsitzauflage gemäß § 60b Abs. 5 S. 2 AufenthG gesetzliche Folge des Duldungszusatzes "für Personen mit ungeklärter Identität" gemäß § 60b Abs. 1 AufenthG. Deshalb können Betroffene sich im Eilverfahren nur gegen den Duldungszusatz gemäß § 60b Abs. 1 AufenthG, nicht aber gegen die einzelnen Folgen gemäß § 60b Abs. 5 S. 1- 3 AufenthG wenden.

2. Der vorläufige Rechtsschutz gegen den Duldungszusatz gemäß § 60b Abs. 1 AufenthG richtet sich nach § 60b Abs. 6 AufenthG, der auf die Rechtsfolgen des § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG verweist.

3. Soweit sich eine Klage gegen den Anrechnungsausschluss und die Wohnsitzauflage wendet, hat die Klage aufschiebende Wirkung, denn § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG bezieht sich nur auf Nebenbestimmungen, die die Ausübung einer Erwerbstätigkeit betreffen. Ein Eilantrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist insofern nicht statthaft. Gemäß § 84 Abs. 2 S. 1 AufenthG, auf dessen Rechtsfolgen § 60b Abs. 6 AufenthG verweist, hat die aufschiebende Wirkung jedoch keine Auswirkung auf die Wirksamkeit. Die Wirksamkeit endet erst mit Aufhebung des Duldungszusatzes im Klageverfahren, § 84 Abs. 2 S. 3 AufenthG.

4. Hinsichtlich der Erlaubnissperre für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit hat die Klage gemäß § 60b Abs. 6 AufenthG i.V.m. § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG zwar keine aufschiebende Wirkung, sodass ein Eilantrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO insofern statthaft wäre. Allerdings fehlt es hier insofern am Rechtsschutzbedürfnis, als der betroffenen Person die Ausübung einer Erwerbstätigkeit gemäß § 60a Abs. 6 S. 1 Nr. 3 AufenthG, § 29a AsylG auch dann nicht erlaubt wäre, wenn der Duldungszusatz gemäß § 60b Abs. 1 AufenthG aufzuheben wäre. Statthaft ist jedoch ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO, gerichtet auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Duldung, Duldung für Personen mit ungeklärter Identität, vorläufiger Rechtsschutz, Anrechnung, Erwerbstätigkeit, Verbot, Wohnsitzauflage,
Normen: AufenthG § 60b Abs. 1, AufenthG § 60b Abs. 5 S. 1, AufenthG § 60b Abs. 5 S. 2, AufenthG § 60b Abs. 6, AufenthG § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 123
Auszüge:

[...]

Der Antrag, "die aufschiebende Wirkung der erhobenen Hauptsacheklage vom 01.06.2021 anzuordnen", ist unzulässig.

Der Anrechnungsausschluss von Vorduldungszeiten gemäß § 60b Abs. 5 Satz AufenthG ist ebenso wie das Erwerbstätigkeitsverbot nach § 60b Abs. 5 Satz 2 AufenthG und die Wohnsitzauflage gemäß § 60b Abs. 5 Satz 3 AufenthG gesetzliche Folge des Duldungszusatzes gemäß § 60b Abs. 1 AufenthG. Gegen diese Folgen kann der Betroffene sich deshalb nicht unmittelbar mit einem Antrag nach § 80 Abs. 5 AufenthG wenden. Vielmehr kann Gegenstand dieses Antrags nur der Duldungszusatz sein (vgl. den Senatsbeschluss vom heutigen Tage im Verfahren gleichen Rubrums 18 E 493/22 zur Statthaftigkeit der Anfechtungsklage (und damit des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO) gegen den Duldungszusatz).

Die nähere Ausgestaltung dieses vorläufigen Rechtsschutzes hat der Gesetzgeber in § 60b Abs. 6 AufenthG durch die Anordnung der Anwendung des § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 2 Satz 1 und 3 AufenthG vorgenommen. Insoweit handelt es sich um eine Rechtsfolgenverweisung. Denn der Duldungszusatz ist hinsichtlich des Erwerbstätigkeitsverbots i.S. von § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG keine Änderung oder Aufhebung einer Nebenbestimmung, die die Ausübung einer Erwerbstätigkeit betrifft. Ebenso wenig kann der Duldungszusatz wegen des Anrechnungsverbots und der Wohnsitzauflage i.S. von § 84 Abs. 2 Satz 1 und 3 AufenthG als Ausweisung oder sonstiger Verwaltungsakt verstanden werden, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet. Zudem geht es der Sache nach um die Anordnung der entsprechenden Anwendung der Rechtsfolgen der in Bezug genommenen Bestimmungen, die nicht ohne Weiteres auf den Rechtsschutz im Rahmen des § 60b AufenthG passen.

Soweit es um den Anrechnungsausschluss nach § 60b Abs. 5 Satz 1 AufenthG und die Wohnsitzauflage gemäß § 60b Abs. 5 Satz 3 AufenthG geht, hat die Klage mangels eines diesbezüglichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung nach § 84 Abs. 1 AufenthG und wegen der Verweisung in § 60b Abs. 6 AufenthG auf die Rechtsfolgen des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG schon kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung, so dass der Anordnungsantrag insoweit unstatthaft ist. Die Wirksamkeit des Anrechnungsausschlusses und der Wohnsitzauflage bleiben davon allerdings aufgrund der Regelung in § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG unberührt. Sie endet erst mit der Aufhebung des Duldungszusatzes im Klageverfahren (§ 60b Abs. 6 AufenthG i.V.m. § 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG).

Hinsichtlich der Erlaubnissperre für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nach § 60b Abs. 5 Satz 2 AufenthG hat die Klage gemäß § 60b Abs. 6 AufenthG i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zwar keine aufschiebende Wirkung, so dass der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO insoweit die statthafte Rechtsschutzform ist. Für diesen Antrag fehlt im vorliegenden Fall aber das Rechtsschutzbedürfnis. Dem Antragsteller darf nämlich gemäß § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 AufenthG i.V.m. § 29a AsylG die Ausübung einer Erwerbstätigkeit auch dann nicht erlaubt werden, wenn der streitige Duldungszusatz gemäß § 60b Abs. 1 Satz 2 AufenthG zu Unrecht verfügt worden sein sollte (vgl. zum Vorstehenden: BT-Dr. 19/10706 S. 14; Wittmann/Röder, ZAR 2019, S. 362, 367 f., tlw. a.A. Hailbronner, Ausländerrecht, § 60b AufenthG Rn. 76 ff.; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 60b AufenthG Rn. 37 ff.).

Differiert nach dem Vorstehenden die Statthaftigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen den Duldungszusatz in Abhängigkeit von den jeweiligen gesetzlichen Folgen (Anrechnungsausschluss, Erwerbstätigkeitsverbot, Wohnsitzauflage), kann das Gericht - im Falle der Begründetheit des zulässigen Antrags - nicht undifferenziert die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Duldungszusatz anordnen. Vielmehr hat es seinen Entscheidungsausspruch auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich des Erwerbstätigkeitsverbots zu beschränken. Insoweit dürfte es sich zur Vermeidung von Kostennachteilen aus anwaltlicher Sicht anbieten, den Antrag von vornherein entsprechend zu beschränken.

Der Antrag, "die Beklagte gem. § 123 VwGO zu verpflichten, dem Kläger unverzüglich eine Duldung gem. § 60a Abs. 2 AufenthG zzgl. Beschäftigungserlaubnis zu erteilen", ist gemäß § 123 Abs. 5 VwGO insoweit unstatthaft, als es um die Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG geht, weil insoweit der vorrangige Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO gegeben ist (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 9. Juni 2021 - 13 ME 587/20-, juris Rn. 12 ff. A.A. Sächs. OVG, Beschluss vom 3. Juni 2021 -3 B 164/21 -, juris Rn. 8 m.w.N.).

Statthaft ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung allerdings, soweit er auf die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis gerichtet ist. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen den Duldungszusatz erhobenen Klage führt hinsichtlich des Erwerbstätigkeitsverbots nämlich nur dazu, dass dieses dem Antragsteller nicht entgegengehalten werden darf. Dies bedeutet aber nicht zugleich, dass es ihm erlaubt ist, eine erlaubnispflichtige Beschäftigung auszuüben. Der Antrag ist aber unbegründet, denn der Erteilung der begehrten Beschäftigungserlaubnis steht das Erteilungsverbot gemäß § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 AufenthG i.V.m. § 29a AsylG entgegen. [...]