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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 22.12.2021 - 2 BvR 1432/21 (Asylmagazin 7-8/2023, S. 272 ff.) - asyl.net: M31018
https://www.asyl.net/rsdb/m31018
Leitsatz:

Verpflichtung zur Nachholung des Visumverfahrens wegen unabsehbarer Trennung vom Kind verfassungswidrig:

1. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 GG ist es grundsätzlich vereinbar, eine Person auf die Nachholung des Visumverfahrens zu verweisen, auch wenn damit die vorübergehende Trennung von einem Kind verbunden ist. Etwas anderes kann bei Kleinkindern gelten, die den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen und diese rasch als endgültigen Verlust empfinden.

2. Der Elternteil kann grundsätzlich nur auf Grundlage einer zuverlässigen Prognose über die Dauer der Trennung vom Kind zur Nachholung des Visumverfahrens verpflichtet werden. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, ob ein Visum versagt werden kann und deshalb eine dauerhafte Trennung von Elternteil und Kind droht.

(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: VGH München, Beschluss vom 02.07.2021 - 10 CE 21.392, 10 CE 21.389 - gesetze-bayern.de)

Schlagwörter: Visumsverfahren, Kleinkind, Kind, Trennung, Eltern-Kind-Verhältnis, Schutz von Ehe und Familie, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen,
Normen: GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 36 Abs. 2, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 5 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Entscheidung an und gibt ihr insoweit statt. [...]

2. Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 2. Juli 2021, dem Beschwerdeführer eine einstweilige Duldung sowie eine einstweilige Verfahrensduldung zu versagen, verletzt diesen in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG.

a) aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zwecks Nachzugs zu bereits im Bundesgebiet lebenden Angehörigen (vgl. BVerfGE 76, 1 <47>; BVerfGK 7, 49 <54 f.>). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. [...]

Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. [...]

[Mit Art. 6 Abs. 1 GG ist es] grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (vgl. BVerfGK 13, 26 <27 f.>). Das Visumverfahren bietet Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu überprüfen. Das Aufenthaltsgesetz trägt dabei dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) abzusehen. [...]

Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfGE 56, 363 <384>; 79, 51 <63 f.>). Eine auch nur vorübergehende Trennung kann nicht als zumutbar angesehen werden, wenn das Gericht keine gültige Prognose darüber anstellt, welchen Trennungszeitraum der Betroffene realistischerweise zu erwarten hat. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht können die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfGK 14, 458 <465>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -). [...]

b) Daran gemessen hat der Verwaltungsgerichtshof bei der Frage, ob dem Beschwerdeführer eine einstweilige Duldung auf der Grundlage des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen ist, die möglichen Beeinträchtigungen von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG nicht hinreichend berücksichtigt. Der Verwaltungsgerichtshof ist davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer einen Anordnungsanspruch nicht in genügender Weise glaubhaft gemacht und insbesondere nicht aufgezeigt habe, dass die mit der Nachholung des Visumverfahrens verbundene Trennung für ihn unzumutbar wäre. Das genügt angesichts der bestehenden Ungewissheiten nicht, um die Zumutbarkeit der Trennung des Beschwerdeführers von seiner Familie infolge der Abschiebung – insbesondere aus der Perspektive seiner Kinder – in verfassungsmäßig tragfähiger Weise zu beurteilen.

aa) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs erweist sich bereits deshalb als verfassungsrechtlich unzureichend, weil sie nicht auf einer gültigen Prognose beruht. Sie begründet nicht hinreichend, warum die Verweisung des Beschwerdeführers auf die Nachholung des Visumverfahrens vom Ausland aus eine lediglich vorübergehende und keine dauerhafte Trennung für den Beschwerdeführer und seine Kinder zur Folge habe (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 -, Rn. 51 ff.).

(1) Eine solche Begründung war von Verfassungs wegen geboten. Die Fachgerichte können von ihr lediglich absehen, wenn es im konkreten Fall mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG vereinbar ist, dem Ausländer und seinem Kind die Lebensgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer zu verwehren, etwa weil die Familiengemeinschaft auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in zumutbarer Weise gelebt werden kann (vgl. BVerfGK 13, 562 <567 f.> sowie BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. August 2003 - 2 BvR 1064/03 -, juris, Rn. 6 f.) oder weil die dauerhafte Trennung der Familie ausnahmsweise zumutbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 1994 - 2 BvR 1542/94 -, juris, Rn. 11 f.). Eine derartige Feststellung hat der Verwaltungsgerichtshof im vorliegenden Fall jedoch nicht getroffen.

(2) Der Verwaltungsgerichtshof geht vielmehr davon aus, dass eine dauerhafte Trennung nicht zu erwarten sei, und begründet dies lediglich mit dem Argument, dass dem Beschwerdeführer gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG ein Visum erteilt werden könne. Dass dessen Erteilung an hohe Hürden gebunden ist und die Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte voraussetzt, wofür die höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt, dass der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist, und dass diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (vgl. BVerwGE 147, 278 <281 f. Rn. 11 ff.>; vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 2016 - 2 BvR 748/13 -, juris, Rn. 13), findet in der Prognose des Verwaltungsgerichtshofs jedoch keinen Niederschlag. [...]

Die Erteilung des Visums nach § 6 Abs. 3 in Verbindung mit § 36 Abs. 2 AufenthG liegt im Ermessen der zuständigen Behörde, vorliegend des Generalkonsulats in Lagos. Neben den Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG müssen in der Regel auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Die zuständige Behörde könnte die Erteilung des Visums versagen, weil sie das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG verneint, etwa weil sie zum Ergebnis kommt, dass die familiäre Lebensgemeinschaft im Ausland fortgeführt werden kann (dazu vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15/12 -, juris, Rn. 14 ff.), weil sie das Vorliegen einer Regelerteilungsvoraussetzung verneint, beispielsweise weil der Lebensunterhalt nicht gesichert ist (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9/12 -, juris, Rn. 23) oder weil – etwa wegen eines nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoßes gegen Rechtsvorschriften – ein Ausweisungsinteresse besteht. [...]

bb) Ob die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs hinsichtlich der zu erwartenden Dauer des Visumverfahrens auf einer gültigen Prognose beruht (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/ 21 -, Rn. 57 ff.), kann vor diesem Hintergrund offenbleiben.

c) Die unter b) aufgeführten Defizite betreffen auch die Entscheidung über eine einstweilige Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG sowie § 25 Abs. 5 AufenthG.

Der Verwaltungsgerichtshof hat den Antrag auf Erteilung einer Verfahrensduldung abgelehnt, weil es an der rechtlichen Unmöglichkeit der Ausreise als Voraussetzung für den begehrten Aufenthaltstitel gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG fehle. Zur Begründung hat er auf die Gründe für die Ablehnung des Antrags auf einstweilige Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG verwiesen, die aus den dargestellten Gründen nicht tragfähig ist.

Darüber hinaus hat er – selbständig tragend – die Ablehnung des Antrags damit begründet, dass der Beschwerdeführer nicht unverschuldet an der Ausreise gehindert sei und daher der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG entgegenstehe. Da es jedoch an einer gültigen Prognose darüber fehlt, ob dem Beschwerdeführer die zeitlich nicht hinreichend konkretisierte Trennung von seiner Familie und damit die Ausreise zumutbar ist, kann auch die Zumutbarkeit der Vorbereitungshandlungen für die Ausreise nicht angenommen werden.

d) Verfassungsrechtlich nicht tragfähig ist schließlich auch die Begründung des Verwaltungsgerichtshofs, wonach dem Beschwerdeführer eine einstweilige Gestattung seiner Erwerbstätigkeit zu verweigern sei. Denn der Verwaltungsgerichtshof hat sich zur Begründung lediglich darauf gestützt, dass es an einem Anspruch auf eine Duldung (oder auf einen Aufenthaltstitel) fehle. Der unter b) aufgezeigte Fehler setzt sich auch hier fort. [...]