VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 07.09.2022 - 22 K 5420/18.A - asyl.net: M31015
https://www.asyl.net/rsdb/m31015
Leitsatz:

Aufhebung eines Widerrufsbescheides bezüglich der Flüchtlingsanerkennung einer kurdischen Person aus Syrien:

1. Einem syrischen Staatsangehörigen, der im Bürgerkrieg auf Seiten der kurdischen "Selbstverteidigungseinheiten" (YPG) stand und gleichzeitig die türkische Staatsangehörigkeit innehatte, droht in der Türkei auch wegen der Besonderheiten des Einzelfalls Verfolgung.

2. Die Verfolgungsgefahr ergibt sich für die betroffene Person auch daraus, dass sie auf eigenen Wunsch aus der türkischen Staatsangehörigkeit entlassen wurde, bei Rückkehr unter das "Gesetz über Ausländer und Internationaler Schutz" fallen würde und im Rahmen des Registrierungsprozesses ihre Fluchtgründe angeben muss, wobei nicht erwartet werden kann, dass sie die Verbindungen zur YPG verschweigt, um nicht in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden zu geraten. Dass die türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben wurde, erhöht die Verfolgungsgefahr, da sich die Frage nach den Gründen aufdrängt.

3. Selbst wenn die betroffene Person die türkische Staatsangehörigkeit noch besäße oder wiedererlangen würde, drohten Verfolgungshandlungen, wenn der türkische Staat sie mit der YPG oder PKK in Verbindung bringt. Gerät eine Person nämlich derart in den Blick der türkischen Sicherheitsbehörden, ist nicht von einem fairen und rechtsstaatlichen Strafverfahren auszugehen.

4. Werden Personen Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen, besteht keine inländische Fluchtalternative, da türkische Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben.

(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung: Entscheidung erging hinsichtlich § 73 Abs. 2 S. 2 AsylG a.F; siehe auch: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 02.05.2022 - 14a K 7600/17.A - asyl.net: M30808)

Schlagwörter: Kurden, Syrien, Türkei, YPG, PKK, Widerrufsverfahren, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Strafverfahren, Terrorverdacht,
Normen: AsylG § 73 Abs. 2, AsylG § 73 Abs. 4, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Hiervon ausgehend stünde dem Kläger heute in Bezug auf die Türkei ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG zu. [...]

Zwar resultiert eine Verfolgungsgefahr nicht bereits daraus, dass der Kläger Kurde ist, denn eine Gruppenverfolgung von Kurden ist nicht anzunehmen. [...]

Insbesondere ist nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnissen eine Verschärfung oder Verschlechterung der Behandlung zurückkehrender Kurden bei der Einreise seit Sommer 2015 nicht festzustellen. [...]

Unabhängig davon steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative offen [...]. Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK höhere Gefährdung verringern. Keine Ausweichmöglichkeiten hingegen bestehen, soweit eine Person Ziel behördlicher oder justizieller Maßnahmen wird, da die türkischen Sicherheitskräfte auf das gesamte Staatsgebiet Zugriff haben [...]

Dem Kläger droht allerdings mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit individuell als syrischer Kriegsflüchtling mit kurdischer Volkszugehörigkeit, der im syrischen Bürgerkrieg auf Seiten der kurdischen "Selbstverteidigungseinheiten" (Yekineyen Parastina Gel – YPG) gestanden hatte, sowie wegen weiterer Besonderheiten des hier zu entscheidenden konkreten Einzelfalls eine Verfolgung wegen Unterstützung bzw. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Die türkische Regierung sieht die Sicherheit des Staates unter anderem durch - aus ihrer Sicht - mit der PKK verbundene Organisationen wie etwa der kurdischen Miliz YPG in Syrien gefährdet. [...] Eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung besteht nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen bei Personen, bei denen Besonderheiten vorliegen, etwa weil sie in das Fahndungsregister eingetragen sind, gegen sie ein Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist oder die sich in besonders exponierter Weise exilpolitisch betätigt haben und deshalb in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind, weil sie als potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer terroristischer Organisationen angesehen werden [...].

Gemessen hieran ist der Einzelrichter auf Grundlage der Angaben des Klägers im Rahmen der Befragung beim Bundesamt, dem Vorbringen im gerichtlichen Verfahren und insbesondere auch der umfassenden informatorischen Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger in Anbetracht der vorliegenden Einzelfallumstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in der Türkei droht. Hierbei ist zu beachten, dass der Kläger aus der türkischen Staatsangehörigkeit entlassen worden ist. Bei seiner Rückkehr in die Türkei würde er daher als Ausländer einreisen und unter das "Gesetz über Ausländer und Internationaler Schutz" fallen [...].

Aufgrund des dabei stattfindenden Registrierungsprozesses würden dem türkischen Staat die oben genannten Besonderheiten in der Person des Klägers bekannt werden, denn es kann vom Kläger nicht erwartet werden, dass er seine Fluchtgründe verschweigt bzw. insoweit den türkischen Behörden die Unwahrheit berichtet. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger über seine im syrischen Bürgerkrieg bestehenden Verbindungen zur YPG berichtet und darüber ins Visier der türkischen Sicherheitsbehörden gerät. Auch der Umstand, dass sich der Kläger aus der türkischen Staatsangehörigkeit hat entlassen lassen, erhöht insoweit die Verfolgungsgefahr, denn es drängt sich für jeden mit dem Fall befassten Sachbearbeiter der türkischen Behörden die Frage auf, weshalb der Kläger erst die türkische Staatsangehörigkeit aufgibt, um dann als Ausländer bzw. als syrischer Flüchtling in die Türkei einzureisen, um sich dort niederzulassen bzw. den Schutz des türkischen Staates in Anspruch zu nehmen. Ist der Kläger einmal in dieser Weise in den Blick der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, ist nicht von einem fairen und rechtsstaatlichen Verfahren auszugehen. Nach der Einschätzung des Auswärtigen Amtes bestehen in politisierten Strafverfahren, etwa wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der oder Propaganda für die PKK, erhebliche Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit sowie einer fairen Prozessführung. [...]

Die vom Bundesamt im Klageverfahren vorgebrachten Argumente überzeugen insgesamt nicht. Das Bundesamt meint, dass der Kläger seine Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit aus asyltaktischen Gründen betrieben habe, um auf diesem Weg den Flüchtlingsstatus behalten zu können. Die aktuelle Situation, wonach er nur noch die syrische Staatsangehörigkeit besitze, habe er selbst sowie in rechtsmissbräuchlicher Absicht herbeigeführt. Aus welchen Gründen der Kläger die Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit betrieben hat, ist jedoch rechtlich unerheblich. Denn die Motivationslage ändert schließlich nichts an der Tatsache, dass der Kläger im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nur die syrische Staatsangehörigkeit besitzt. Nur dies ist für die nach § 73 Abs. 2 AsylG im Ausgangspunkt maßgebliche Frage, ob dem Kläger aus anderen Gründen Flüchtlingsschutz zuerkannt werden könnte, von Belang. § 73 Abs. 2 AsylG eröffnet im Übrigen dem Bundesamt bei der Rücknahmeentscheidung auch kein Ermessen, bei dessen Ausübung die vermeintlich rechtsmissbräuchliche Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit zu berücksichtigen wäre. Ungeachtet dessen wäre der Kläger aber auch dann von Verfolgungshandlungen durch den türkischen Staat bedroht, wenn er die türkische Staatsangehörigkeit noch besäße. Denn auch türkische Staatsangehörige werden vom türkischen Staat verfolgt, sofern er diese mit der YPG/PKK in Verbindung bringt. Daher geht auch das Argument des Bundesamts ins Leere, der Kläger sei auch weiterhin auf die Inanspruchnahme des Schutzes der Türkei zu verweisen, weil ihm die Möglichkeit offenstehe, die türkische Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen. [...]