VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 24.05.2022 - 2 A 46/22 - asyl.net: M30976
https://www.asyl.net/rsdb/m30976
Leitsatz:

Systemische Mängel im slowenischen Asylverfahren wegen gewaltsamer Pushbacks:

"1. Die slowenische Grenzpolizei vereitelt durch zwangsweise Rückschiebungen von Geflüchteten nach Kroatien regelmäßig das Recht auf Asylantragstellung und verstößt damit gegen das Non-Refoulement-Gebot.

2. Die slowenischen Behörden setzen Urteile ihrer Justiz über rechtswidrige Zwangsrückführungen bisher nicht konsequent in die Praxis um.

3. Aufgrund der Beteiligung Sloweniens an Kettenabschiebungen aus anderen EU-Ländern kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch Dublin-Rückkehrer aus Deutschland Opfer von Pushbacks werden.

4. Behördliche Schreiben zu den allgemeinen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im Zielland einer etwaigen Abschiebung stellen keine individuelle Garantieerklärung für die Betroffenen dar."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Slowenien, Dublinverfahren, Pushback, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Refoulement, EMRK, Kettenabschiebung, Polizei, Genfer Flüchtlingskonvention, Dublin III-Verordnung, Zurückschiebung, Zurückweisung, Non-Refoulement, Europäische Menschenrechtskonvention,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, GFK Art. 33 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

27 Die Zuständigkeit Sloweniens ergibt sich grundsätzlich aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO. [...]

28 Die Zuständigkeit Sloweniens ist jedoch aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.

29 Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Kläger an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Kläger in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen. [...]

31 Solche systemischen Mängel im slowenischen Asylsystem bestehen darin, dass es in Slowenien seit Langem und in erheblichem Umfang zu "Push-backs", dem erzwungenen Abdrängen von Asylbewerbern über die slowenisch-kroatische Grenze, kommt. Auch Kettenabschiebungen von Österreich und Italien über Slowenien nach Kroatien und von dort wiederum nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien sind hinreichend belegt. Folglich ist nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens an Slowenien rücküberstellte Antragsteller nicht ebenfalls Opfer von Kettenabschiebungen nach Kroatien werden könnten und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt würde. [...]

43 All dies spricht dafür, dass Migranten in Slowenien in einem Polizeiverfahren systematisch der Zugang zum Asylverfahren verwehrt wird. Die Rückübernahmeabkommen, die eine so genannte "informelle Rückführung" von irregulär eingereisten Drittstaatsangehörigen ohne förmliches Verfahren vorsehen, enthalten keine ausreichenden Garantien, um die Menschen vor einer möglichen Zurückweisung zu schützen (Europarat, Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence (GREVIO), Baseline Evaluation Report Slovenia, 12.10.2021, S. 75). Diese Abkommen stellen ein System dar, das außerhalb des EU-Rechts und der Bestimmungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems liegt und
nicht den dort geforderten Standards entspricht.

44 Die in Slowenien praktizierten "Push-backs" und Kettenabschiebungen, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren zu erhalten, verstoßen gegen das Non-Refoulement-Prinzip. Dieses Prinzip ist verankert in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der bestimmt, keiner der vertragschließenden Staaten werde einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Nach Rechtsprechung des EGMR liegt in der Zurückweisung eines Asylantrags zudem ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK, wenn der ausweisende Staat zuvor nicht prüft und bewertet, ob es infolge der Ausweisung zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Antragstellers kommen kann (EGMR, Urteil vom 14.03.2017 - 47287/15 -, beck-online Rn. 112 ff.). [...]

46 Es kann schließlich entgegen der Auffassung anderer Verwaltungsgerichte (VG Würzburg, Beschluss vom 11.12.2020 - W 8 S 20.50299 -, juris Rn. 18; VG Saarlouis, Beschluss vom 07.09.2020 - 5 L 744/20 -, juris Rn. 32; VG Bremen, Beschluss vom 14.01.2020 - 4 V 2702/19 -, juris Rn. 17; VG Trier, Urteil vom 03.04.2019 - 7 K 5601/18.TR -, juris Rn. 42; VG Lüneburg, Beschluss vom 30.01.2019 - 8 B 216/18 -, juris Rn. 20) nicht davon ausgegangen werden, dass für Dublin-Rückkehrer keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in Slowenien bestehen, sie insbesondere unbeschränkten Zugang zum Asylverfahren erhalten. Denn zu der in zahlreichen Fällen dokumentierten Verweigerung des Rechts auf Asylantragstellung kam es nicht nur unmittelbar nach illegalen Grenzübertritten von Kroatien aus, sondern sogar dann, wenn die Migranten bereits in andere EU-Länder wie Italien oder Österreich vorgedrungen waren und von dort aus zurückgeschoben wurden. [...]

49 Es ist auch nicht belegt, dass vulnerable Personen wie die Klägerin von den kroatischen Behörden mehr Rücksichtnahme als andere Migranten erwarten können. Dass die Klägerin trotz ihrer Erkrankungen vor "Push-backs" nicht geschützt ist, ergibt sich schon darauf, dass sie selbst bereits einmal Opfer einer Zwangsrückführung nach Kroatien durch die slowenische Polizei geworden ist. [...]