VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06.07.2022 - A 13 S 733/21 - asyl.net: M30973
https://www.asyl.net/rsdb/m30973
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Mann aus Gambia:

"1. Männern, deren Homosexualität bedeutsamer Bestandteil ihrer sexuellen Identität ist, droht gegenwärtig in Gambia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit eine Verfolgung in Form einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend ist, dass sie in der Gesamtschau einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung gleichkommt.

2. Ein Asylbewerber, bei dem anzunehmen ist, dass er seine homosexuelle Identität bei einer hypothetischen Rückkehr nach Gambia nur wegen seiner Furcht vor Verfolgung nicht ausleben würde, darf nicht darauf verwiesen werden, dass er sich durch das Verheimlichen seiner sexuellen Identität der ansonsten beachtlich wahrscheinlichen Verfolgung entziehen kann.

3. Homosexuelle Männer haben in Gambia nicht die Möglichkeit, internen Schutz gemäß § 3e AsylG vor Verfolgung wegen ihrer sexuellen Identität zu erhalten."

(Amtliche Leitsätze; siehe auch: VG Berlin, Urteil vom 19.08.2021 - 31 K 687.17 A - asyl.net: M30358)

Schlagwörter: Gambia, homosexuell, Strafbarkeit, Homosexualität, nichtstaatliche Verfolgung, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4 Bst. b, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c, AsylG § 3d Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger ist danach Flüchtling im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG, denn er hat die begründete Furcht, bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland Gambia wegen seiner Homosexualität verfolgt zu werden (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Buchst. a, § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Eine anderweitige Schutzmöglichkeit durch Inanspruchnahme eines Schutzes durch Akteure gemäß § 3d AsylG oder durch Niederlassung in einem anderen Landesteil gemäß § 3e AsylG steht dem Kläger in Gambia nicht zur Verfügung.

a) Für den Kläger ist der Verfolgungsgrund nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG erfüllt, da homosexuelle Männer in Gambia einer bestimmten sozialen Gruppe angehören (aa) und der Kläger homosexuell ist (bb).

aa) Homosexuelle Männer erfüllen in Gambia das Verfolgungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). [...]

(1) Die sexuelle Ausrichtung einer Person ist ein unveränderbares Merkmal, das so bedeutsam für die Identität ist, dass die Person nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten oder sie geheim zu halten (vgl. EuGH, Urteil vom 07.11.2013 - Rs. C-199/12 bis C-201/12 - X, Y und Z - juris Rn. 46, 70, 71; BVerfG, Beschluss vom 22.01.2020 - 2 BvR 1807/19 - juris Rn. 19).

(2) Das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt die Feststellung, dass diese Personen eine abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (EuGH, Urteil vom 07.11.2013 a. a. O. Rn. 48).

Das gambische Strafgesetzbuch enthält in Art. 144, 144A und 147 solche Vorschriften, die sich spezifisch gegen Homosexuelle richten. Homosexualität wird als "Geschlechtsverkehr wider die natürliche Ordnung" (engl.: "carnal knowledge against the order of nature") angesehen. Art. 144 Abs. 2 Buchst. c, Art. 144A und 147 des gambischen Strafgesetzbuchs geben als Beispiel für die Tathandlung "widernatürlichen Geschlechtsverkehrs" ausdrücklich "homosexuelle Akte" und Homosexualität als solche an. Art. 144 des gambischen Strafgesetzbuchs sieht für "widernatürlichen Geschlechtsverkehr" eine Freiheitsstrafe von 14 Jahren vor, als "schwere Homosexualität" wird nach Art. 144A des gambischen Strafgesetzbuchs die wiederholte Tatbegehung sogar mit lebenslanger Freiheitsstrafe sanktioniert. Der Versuch ist gemäß Art. 145 des gambischen Strafgesetzbuchs strafbar und wird mit Freiheitsstrafe von 7 Jahren bestraft. Art. 147 des gambischen Strafgesetzbuchs bedroht "Akte grober Unanständigkeit", zu denen auch homosexuelle Akte im privaten Bereich gehören, mit Freiheitsstrafe von 5 Jahren (engl. Wortlaut der Straftatbestände in EUAA (vormals EASO), EASO Country of Origin Information Report - The Gambia Country Focus vom 01.12.2017, S. 67 ff.).

bb) Der Kläger gehört der Gruppe der Männer mit homosexueller Identität an.

Schon das Verwaltungsgericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger homosexuell ist. Auch für den hier erkennenden Senat steht dies nach eigener und umfassender Anhörung des Klägers zu seiner sexuellen Identität in der Berufungsverhandlung außer Zweifel. [...]

b) Die Furcht des Klägers, bei einer Rückkehr nach Gambia wegen seiner Homosexualität zum Opfer von Verfolgungshandlungen gemäß § 3a AsylG zu werden, ist begründet. [...]

Zwar kann aus dem Vorbringen des Klägers nicht geschlossen werden, dass er vorverfolgt aus Gambia ausgereist wäre (aa), allerdings droht ihm bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen seiner Homosexualität (bb).

aa) Der Kläger ist nicht vorverfolgt ausgereist. Sein diesbezügliches Vorbringen ist nach der Überzeugung des Senats nicht glaubhaft. Er kann sich deshalb nicht auf die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU stützen, bei einer Rückkehr nach Gambia erneut Opfer einer Verfolgung zu werden. [...]

bb) Allerdings droht dem Kläger dessen ungeachtet bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr nach Gambia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen seiner für die persönliche Identität bedeutsamen Homosexualität. [...]

Zwar ist der Senat auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse über die gegenwärtige Situation homosexueller Männer im Gambia nicht davon überzeugt, dass dem Kläger Verfolgung wegen seiner sexuellen Identität seitens staatlicher Akteure droht (1), jedoch droht homosexuellen Männern wie dem Kläger in Gambia eine Verfolgungshandlung in Form einer Kumulierung verschiedener Maßnahmen einschließlich der Einschüchterung durch die trotz Nichtanwendung gleichwohl fortbestehende Strafandrohung, wenn sie der sie umgebenden Gesellschaft gegenüber ihre sexuelle Identität offenbarten (2).

(1) Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung (§ 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 3 AsylG) allein durch staatliche Akteure (§ 3c Nr. 1 AsylG). Es ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 AsylG) weder eine Strafverfolgung und Verurteilung des Klägers (a) noch eine sonstige Verfolgungshandlung seitens staatlicher Akteure (b) beachtlich wahrscheinlich.

(a) Dem Kläger droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine strafrechtliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe wegen seiner Homosexualität und damit eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 AsylG.

Zwar steht Homosexualität in Gambia unter Strafe, allerdings kann bei qualifizierender Betrachtung gegenwärtig nicht davon ausgegangen werden, dass die Straftatbestände in Art. 144, 144A, 145 und 147 des gambischen Strafgesetzbuchs praktisch angewendet werden, es zu Festnahmen, Anklagen oder Verurteilungen und damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 AsylG kommt.

Seit dem Regierungswechsel von Präsident Yahya Jammeh zu Präsident Adama Barrow im Jahr 2017 ist es in Gambia nur zu einer relevanten Verurteilung wegen einer der genannten Straftatbestände gekommen. [...]

(b) Auch eine außergesetzliche Verfolgung durch gambische Sicherheitskräfte ist nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. [...]

(2) Das gesellschaftliche Klima in Gambia hat jedoch nach der Überzeugung des Senats das Ausmaß einer solchen Feindseligkeit gegenüber Männern, für die ihre Homosexualität identitätsprägend ist, angenommen, dass es mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kommen kann. Dem Kläger drohen bei einer hypothetischen Rückkehr unterschiedliche Maßnahmen privater Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG, (a)); hinzu tritt die staatliche (§ 3c Nr. 1 AsylG) Strafandrohung für homosexuelle Akte, die zwar wegen der nicht beachtlich wahrscheinlichen Umsetzung nicht das Ausmaß einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung erreicht (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), aber wegen ihrer einschüchternden Wirkung das Menschenrecht des Klägers auf Achtung seines Privatlebens aus Art. 8 EMRK verletzt (b). In der Kumulierung erreichen diese Maßnahmen eine Intensität, die so gravierend ist, dass der Kläger in gleicher Weise wie von einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung in Form einer unverhältnismäßigen und diskriminierenden Bestrafung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 AsylG betroffen ist (c).

(a) Der Kläger wäre bei einer hypothetischen Rückkehr nach Gambia einer Vielzahl von unterschiedlichen Diskriminierungen seitens nichtstaatlicher Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG) ausgesetzt, die zu einer umfassenden Ausgrenzung und Erniedrigung führen. [...]

(c) Die Kumulierung dieser einzelnen, unterschiedlichen Maßnahmen ist in ihrer Wirkung so gravierend, dass sie in der Gesamtschau einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung wie dem aufgrund einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Freiheitsstrafe erzwungenen Verzicht auf das Ausleben der homosexuellen Identität gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. Nr. 1 AsylG gleichkommt (vgl. auch VG Karlsruhe, Urteil vom 12.05.2021 - A 10 K 561/19 - juris Rn. 51; VG Freiburg, Urteil vom 09.12.2020 - A 15 K 4788/17 - juris Rn. 47 ff.).

Homosexuellen Männern wird die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Gambia verwehrt. Sie werden aber nicht nur missachtet oder abgelehnt, was für die Annahme einer Verfolgungshandlung nicht hinreichend wäre. [...]

Der Verfolgungseingriff ist auch unter dem Gesichtspunkt der erzwungenen Freiheitsbeschränkung von hoher Intensität. Der staatliche und der - hohe - gesellschaftliche Verfolgungsdruck zwingt homosexuelle Männer in Gambia zu einem dauerhaften und vollständigen Verzicht auf das Ausleben ihrer sexuellen Identität. Vom Kläger kann wegen der Bedeutsamkeit der sexuellen Identität für seine Persönlichkeit nicht verlangt werden, seine Homosexualität zu verbergen (vgl. unten (d)). [...]

Selbst wenn man der Auffassung sein wollte, dass der auf die dargestellte Art und Weise erzwungene Verzicht auf jedes öffentliche Ausleben der homosexuellen Identität eines Mannes allein noch nicht die Qualität eines relevanten Verfolgungseingriffs hat, so ergibt sich ein solcher jedenfalls aus einer wertenden Zusammenschau der vorgenannten nichtstaatlichen - auch gewalttätigen - Übergriffe und diskriminierenden Maßnahmen, die jeweils für sich betrachtet noch keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit im konkreten Einzelfall begründen beziehungsweise nicht die erforderliche Schwere aufweisen mögen, mit der einschüchternden Wirkung des strafbewehrten Verbots der Homosexualität als (staatliche) Menschenrechtsverletzung.

(d) Der Kläger wäre bei hypothetischer Rückkehr diesen erniedrigenden Lebensbedingungen ausgesetzt, da seine Homosexualität identitätsprägender Teil seiner Persönlichkeit ist. Für die Rückkehrprognose ist daher hypothetisch zu unterstellen, dass der Kläger seine Homosexualität bei einer Rückkehr nach Gambia offen ausleben würde. [...]

c) Der Kläger kann zur Überzeugung des Senats gegen eine solche Verfolgung weder staatlichen Schutz gemäß § 3d AsylG in Anspruch nehmen (aa), noch sich der Verfolgung durch Niederlassung in einem anderen Landesteil entziehen, in dem er vor Verfolgung gemäß § 3e AsylG sicher ist (bb). [...]