Keine niedrigere Regelbedarfsstufe bei alleinstehenden Leistungsberechtigten in Gemeinschaftsunterkunft:
1. Die niedrigeren Regelsätze für alleinstehende Leistungsberechtigte in einer Gemeinschaftsunterkunft gemäß § 3a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG sind nach summarischer Prüfung unionsrechtswidrig. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts führt das zur Nichtanwendung der unionsrechtswidrigen Ausnahmeregelungen.
2. Der Umstand, dass eine leistungsberechtigte Person auf eigenen Wunsch mit einem Geschwisterteil in einer Gemeinschaftsunterkunft zusammenlebt, ändert daran nichts. Auch beim Bezug von SGB XII- bzw. SGB II-Leistungen besteht keine Einstandspflicht zwischen Geschwistern. Es ist nicht nachvollziehbar, warum in einer Gemeinschaftsunterkunft lebende Geschwister niedrigere Leistungen erhalten sollten, als Personen in der gleichen Situation, die in einer Wohngemeinschaft leben.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: LSG Hessen, Beschluss vom 13.04.2021 - L 4 AY 3/21 B ER - asyl.net: M29534)
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Der Antrag der Antragstellerin ist am Maßstab von § 86b Abs. 2 SGG im Wesentlichen begründet. [...]
Vorliegend führt der Anwendungsvorrang von Art. 1 und 20 der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRC) i.V.m. Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahme-RL) zur Anwendung zur Regelbedarfsstufe 1. Zur Begründung verweist der Senat auf die detaillierten Darlegungen in den Senatsentscheidungen vom 13. April 2021, L 4 AY 3/21 B ER und vom 9. Juni 2021, L 4 AY 5/21 B ER. Insoweit hat der Senat insbesondere ausgeführt:
"bb) § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG sind bei wortlautgetreuer Auslegung nach summarischer Prüfung nicht mit Art. 1 GRC, Art. 20 GRC i.V.m. Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Aufnahme-RL zu vereinbaren (dazu bb) (1), (2) und (3)). Wegen des gleichzeitigen Verstoßes gegen Unionsgrundrechte greift hier nicht lediglich die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, die den gleichen Restzweifeln unterliegt wie die verfassungskonforme Auslegung. Vielmehr führt der Anwendungsvorrang von Art. 1 und Art. 20 GRC zur Nichtanwendung der unionsrechtswidrigen Ausnahmeregelungen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG und zur wohnsituationsunabhängigen Anwendung der Regelbedarfsstufen bei Alleinstehenden (dazu bb) (4)). (…)
(2) Nach summarischer Prüfung sind § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG nicht mit dem von Art. 1 GRC, Art. 20 GRC i.V.m. Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Aufnahme-RL geforderten Leistungsniveau in Einklang zu bringen. Die Mitgliedstaaten sorgen nach Art. 17 Abs. 2 Aufnahme-RL dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet; die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass dieser Lebensstandard gewährleistet ist, wenn es sich um schutzbedürftige Personen im Sinne von Art. 21 Aufnahme-RL und um in Haft befindliche Personen handelt." [...]
(3) Gemessen an diesem Maßstab sind die Leistungshöhen der § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 b) AsylbLG und § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG nach summarischer Prüfung unionsrechtswidrig. Wie oben gezeigt, beruht die geringere Regelleistungshöhe von 90 Prozent gegenüber in einer Wohnung lebenden Alleinstehenden nicht auf dem Unterschied zwischen Sach- und Geldleistungsgewährung i.S.d. Art. 17 Abs. 5 Aufnahme-RL. Sie betrifft ausnahmslos die Geldleistungsgewährung. Sie entstehen auch unabhängig von der Sachleistungsgewährung in Gestalt der Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft (zu den bereits herausgerechneten weiteren Bedarfen siehe unten cc). [...]
Soweit der Antragsgegner im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz darauf abstellt, dass ein "gemeinsames Wirtschaften" der Antragstellerin und ihrer Schwester gerade aufgrund der von den Schwestern gewollten Unterkunftsgestaltung vorliege, die zu Synergieeffekten im Sinne von Einsparungen führe und insoweit auf den Grundgedanken des § 84 Abs. 2 SGB XII hinweist, kann dies von dem Senat unter Hinweis auf die obigen Ausführungen nicht nachvollzogen werden. Bei SGB XII- bzw. SGB II-Leistungsempfängern existiert zunächst gerade eine Einstandspflicht zwischen Schwestern nicht (Vorliegen einer Ungleichbehandlung mit anderen alleinstehenden Antragstellerinnen und Antragstellern: Es ist nicht nachvollziehbar, warum in einer Gemeinschaftsunterkunft lebende alleinstehende, um internationalen Schutz suchende Personen niedrigere Leistungen erhalten als in einer Wohngemeinschaft lebende, alleinstehende Personen in der gleichen Situation). [...]
Da wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts die Antragstellerin so gestellt werden muss wie Alleinstehende, die nicht in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, bemisst sich die Leistungshöhe nach § 3a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG, § 3a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylbLG. [...]