VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 31.05.2022 - 6 K 1255/20.A - asyl.net: M30960
https://www.asyl.net/rsdb/m30960
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für zum Christentum konvertiertes iranisches Ehepaar:

Einem zum Christentum konvertierten Ehepaar droht im Iran flüchtlingsrelevante Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Konvertiten, Apostasie, Christen, Konversion, religiöse Verfolgung, Glaubenswechsel, Religion, Taufe, Taufurkunde, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Hieran gemessen ist festzustellen, dass die Kläger durch ihren Übertritt zum Christentum, substantiiert durch ihre bescheinigten Taufen am 2. Februar 2020 in der ...-Kirche ... sowie die zahlreichen weiteren Dokumente zu ihrer Religionsausübung in Deutschland, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG erfüllen. Deshalb kann offen bleiben, ob die Kläger vor ihrer Ausreise aus dem Iran schon einmal in flüchtlingsschutzrelevanter Weise verfolgt wurden und - falls ja - eine erneute Verfolgung in ihren Heimatstaat auszuschließen wäre. [...]

1. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Hinwendung des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2. zum Christentum auf einer festen Überzeugung und auf einem ernstgemeinten religiösen Einstellungswandel und nicht auf reinen Zweckmäßigkeitserwägungen beruht (vgl. zu den Anforderungen an das Asylvorbringen eines Konvertiten und an die richterliche Überzeugungsbildung: BVerwG, Beschluss vom 25. August 2015 - 1 B 40.15 -, juris; OVG NRW, Beschlüsse vom 11. November 2013 - 13 A 2252/13.A -, juris Rn. 7 ff. m.w.N., vom 10. Februar 2015 - 13 A 2569/14.A -, juris Rn. 6 f. (speziell zum Vorwurf der Apostasie im Iran), sowie Urteil vom 7. November 2012 - 13 A 1999/07.A -, juris Rn. 37 ff.).  [...]

Das Vorbringen des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2. zu ihrem Glaubenswechsel erscheint dem Gericht als uneingeschränkt plausibel. Sie haben zur Überzeugung des Gerichts hinreichend dargelegt, dass sie über ein ausreichendes Wissen über die Grundlagen des christlichen Glaubens verfügen und sich in dem geforderten Umfang mit den Glaubensgrundsätzen des Christentums auseinandergesetzt haben. Bereits im Rahmen seiner umfangreichen behördlichen Anhörung vom 2. Januar 2020 offenbarte der Kläger zu 1. weitreichende und fundierte Kenntnisse des christlichen Glaubens und der Bibel. Der entsprechenden Niederschrift des Bundesamtes ist zu entnehmen, dass er sich bereits im Iran intensiv mit der christlichen Religion befasste und einer christlichen Gruppierung, die auch Hausgottesdienste abhielt, angehörte. Das Gericht nimmt dem Kläger zu 1. auch ab, dass er in seinem Herkunftsland - mit der gebotenen Vorsicht - im und in seinem näheren privaten Umfeld missionierte, wobei auch Skripten und CDs über das Leben von Jesus Christus verteilt wurden; überdies engagierte er sich schon damals politisch, indem er Missstände des iranischen Regimes aufzeigte. Auch die Klägerin zu 2. legte bereits bei der behördlichen Befragung vom selben Tag ausführlich das engagierte Wirken ihres Ehemannes, über das sie seinerzeit verärgert war, dar. Zudem erklärte sie nachvollziehbar, wie bei ihr - vom Kläger zu 1. beeinflusst - das Interesse am christlichen Glauben geweckt wurde und sie sich auch durch die Lektüre der Bibel allmählich dem Christentum zuwandte, wobei sie nicht an Zusammenkünften der besagten christlichen Gruppe teilnahm. Das vorgerichtliche Vorbringen der Eheleute zu diesem Themenkomplex wie auch zum Auslöser ihrer Ausreise fiel nicht nur plastisch, detailreich und ausführlich, sondern auch komplett widerspruchsfrei im Abgleich untereinander aus. In der mündlichen Verhandlung haben der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. einen uneingeschränkt glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Es handelt sich bei ihnen um zurückhaltende Menschen ohne den geringsten Hang zur Übertreibung. Sie haben ihren Vortrag vertieft und unter anderem lebendig davon berichtet, wie der Kläger zu 1. die Klägerin zu 2. sowie - vom christlichen Glauben überzeugt habe. Hinzu kommt ein bemerkenswertes aktives religiöses Engagement der Eheleute seit ihrer Ankunft in Deutschland. Sie nahmen bzw. nehmen nicht nur regelmäßig an Gottesdiensten, sondern auch am Bibelunterricht sowie an Glaubenskursen auch außerhalb der für sie nunmehr zuständigen Evangelischen Kirchengemeinde ... teil. Dies wird nicht nur durch zahlreiche Bestätigungsschreiben unter anderem der Evangelischen Kirchengemeinden … und …, sondern auch des Evangelischen Kirchenkreises ... und … belegt. Insgesamt gibt es bei Berücksichtigung der Persönlichkeit des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2., wie sie in der mündlichen Verhandlung zu Tage getreten ist, nicht den geringsten Anlass für die Vermutung, dass sie sich nur aus asylverfahrensbedingten Gründen und ohne eine ernsthafte Gewissensprüfung der Taufe unterzogen. Dass der Kläger zu 1. und die Klägerin zu 2. eine ernsthafte Entscheidung zum Glaubensübertritt trafen, die nicht - und erst recht nicht einfach - umkehrbar ist, ergibt sich nicht zuletzt aus den Ausführungen des in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehörten Herrn … vom Presbyterium, der von der Teilnahme der Familie an Gottesdiensten im Zoom-Format während der Corona-Pandemie berichtet hat. Es spricht alles dafür, dass der christliche Glaube jedenfalls im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt die gesamte Persönlichkeit des Klägers zu 1. und der Klägerin zu 2. prägt, wobei auch davon auszugehen ist, dass sie auch nach einer - hier nur unterstellten - Rückkehr in den Iran ihren Glauben dort nicht aufgeben würden. Damit ist zugleich davon auszugehen, dass ihnen bei ihrer Glaubensbetätigung nach den im Iran derzeit herrschenden Verhältnissen als Konvertiten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von flüchtlingsschutzrelevanter Verfolgung droht.

Schon nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 28. Januar 2022 sind muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Freikirchen willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt. Anerkannten ethnischen Gemeinden ist es untersagt, konvertierte Christen zu unterstützen. Gottesdienste in der Landessprache Persisch sind im Iran verboten, ebenso die Verbreitung christlicher Schriften. Teilweise werden einzelne Gemeindemitglieder vorgeladen und befragt. Unter besonderer Beobachtung stehen insbesondere auch hauskirchliche Vereinigungen, deren Versammlungen regelmäßig aufgelöst und deren Angehörige gelegentlich festgenommen werden. Es lägen Berichte vor von anhaltenden Razzien in Kirchengemeinden, insbesondere Hauskirchen, Konfiszierung von Bibeln und christlichen Materialien und der Verhaftung vieler Christen muslimischer Herkunft, aber auch traditioneller Christen wie Armenier und Assyrer [...].

Muslimen ist es ebenso verboten, zu konvertieren ("Abfall vom Glauben"), wie an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion eines schiitischen Iraners zum sunnitischen Islam oder einer anderen Religion sowie Missionstätigkeit unter Muslimen können eine Anklage wegen Apostasie und schwerste Sanktionen bis hin zur Todesstrafe nach sich ziehen. Oftmals lautet die Anklage jedoch auf "Gefährdung der nationalen Sicherheit“, "Organisation von Hauskirchen" und "Beleidigung des Heiligen", wohl um die Anwendung des Scharia-Rechts und damit die Todesstrafe wegen Apostasie zu vermeiden [...].

Der Abfall vom Islam (Apostasie) kann zudem mit der Todesstrafe geahndet werden. Nach Kenntnis des Auswärtigen Amts ist es in den letzten 20 Jahren zu keiner Hinrichtung aus diesem Grund gekommen [...].

Allerdings wurde die Todesstrafe weiterhin wegen vage formulierter Anklagen verhängt, wie "Beleidigung des Propheten", "Feindschaft zu Gott" oder "Förderung von Verdorbenheit auf Erden" (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 12. Januar 2019 (Stand November 2018), S. 21). [...]