VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Beschluss vom 02.09.2022 - A 16 K 3603/22 (Asylmagazin 10-11/2022, S. 371 f.) - asyl.net: M30956
https://www.asyl.net/rsdb/m30956
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung wegen systemischer Mängel in Kroatien:

1. Systemische Mängel des kroatischen Asylverfahrens ergeben sich daraus, dass Personen, die Kroatien verlassen und ihren Asylantrag zurückgezogen bzw. eine Zurückweisung erhalten haben - entgegen den Vorgaben der Dublin III-VO - bei ihrer Rückkehr als Folgeantragstellende behandelt werden. Das stellt einen Verstoß gegen Art. 18 Abs. 2 der Dublin-III-VO dar, nach dem Antragstellende, die einen Antrag vor Entscheidung in der Sache in erster Instanz zurückgezogen haben, berechtigt sein müssen, den Abschluss des Verfahrens zu beantragen oder die Möglichkeit erhalten, einen neuen Antrag zu stellen, der nicht als Folgeantrag behandelt wird. Durch die Behandlung als Folgeantragstellende besteht die Gefahr, dass Rückkehrende keinen Schutz vor Zurückweisung ("Refoulement", Art. 33 Abs. 1 GFK) erhalten, sondern ohne Anhörung und wesentliche Verfahrensgarantien aus Kroatien abgeschoben werden.

2. Anhaltspunkte für systemische Mängel des kroatischen Asylverfahrens bestehen auch aufgrund der gehäuften Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang mit sogenannten "Push-Backs", d.h. dem gewaltsamen Abdrängen von Asylsuchenden über die kroatische EU-Außengrenze nach Serbien oder Bosnien und Herzegowina, sowie aufgrund der Hinweise auf Kettenabschiebungen aus anderen Dublin-Mitgliedstaaten dorthin.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf VG Braunschweig, Urteil vom 24.05.2022 - 2 A 26/22 - asyl.net: M30975)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Kroatien, Pushback, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Refoulement, EMRK, Kettenabschiebung, Polizei, Genfer Flüchtlingskonvention, Dublin III-Verordnung, Zurückschiebung, Zurückweisung, Non-Refoulement, Europäische Menschenrechtskonvention, Asylfolgeantrag,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 2, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, GFK Art. 33 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

13 Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG) und hat auch in der Sache Erfolg. [...]

15 Nach diesen Maßgaben überwiegt im vorliegenden Fall das private Interesse der Antragsteller gegenüber dem öffentlichen Interesse am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts. Nach summarischer Prüfung dürfte die Klage gegen die Abschiebungsanordnung voraussichtlich Erfolg haben, da diese rechtswidrig sein dürfte. [...]

18 Bei Anwendung dieser Kriterien ist Kroatien für die Durchführung des Asylverfahrens nach Art. 18 Abs. 1 lit. d, Art. 23 ff. Dublin III-VO zuständig. [...]

19 Die Bundesrepublik Deutschland dürfte aber nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers zuständig geworden sein. [...]

21 Hier bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsteller bei einer Überstellung nach Kroatien von einer Zurückweisung im Sinne eines "Refoulements", also einer Rückführung ohne Prüfung des Asylbegehrens, betroffen sein werden. [...]

23 Ein Antragsteller, der vor Verlassen des Landes Kroatien seinen Asylantrag explizit zurückgezogen bzw. eine Zurückweisung erhalten hat, wird – entgegen den Vorgaben der Dublin III-VO – im kroatischen Asylverfahren als Folgeantragsteller behandelt (Asylum Information Database (AIDA), Country Report Croatia, Update 2021, S. 47; European Council for Refugees and Exiles (ECRE), Balkan route reversed, 15.12.2016, S. 30). Diese nationalen Vorschriften stellen einen Verstoß gegen Art. 18 Abs. 2 der Dublin IIIVO dar. Danach müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ein Antragsteller, der seinen Antrag vor Entscheidung in der Sache in erster Instanz zurückgezogen hat, berechtigt ist zu beantragen, das die Prüfung seines Antrags abgeschlossen wird, oder einen neuen Antrag zu stellen, der nicht als Folgeantrag behandelt wird.

24 Durch die Behandlung als Folgeantragsteller besteht die Gefahr, dass Antragsteller keine Anhörung mehr erhalten und wesentliche Verfahrensgarantien, die sie vor einem "Refoulement" schützen sollen, für sie nicht greifen. Denn bei Folgeanträgen muss das kroatische "Asylum Department" innerhalb von 15 Tagen über die Zulässigkeit des Folgeantrags entscheiden. Eine Anhörung erhalten die Antragsteller nur, wenn die Behörde ihren Folgeantrag als zulässig bewertet. Tut sie dies (fälschlicherweise) nicht, laufen die  Antragsteller Gefahr, keinen Schutz vor Zurückweisung ("Refoulement") zu erhalten (vgl. ECRE, Balkanroute reversed, 15.12.2016, S. 30-31).

25 Nach der Auskunft der kroatischen Behörden vom 12.05.2022 wurde das Asylverfahren der Antragsteller eingestellt und die Entscheidung bestandskräftig. Dadurch besteht die Gefahr, dass ihr Asylbegehren als Folgeantrag gewertet wird und den Antragstellern in Kroatien der Zugang zu einer materiellen Prüfung ihres Asylbegehrens verwehrt wird.

26 Ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass auch Anhaltspunkte für systemische Mängel des kroatischen Asylverfahrens aufgrund der gehäuften Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang mit sogenannten "Push-Backs", d.h. dem gewaltsamen Abdrängen von Asylbewerbern über die kroatische EU-Außengrenze nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina, sowie auf Kettenabschiebungen bestehen (vgl. hierzu auch VG Braunschweig, Urteil vom 24.05.2022 - 2 A 26/22 - und Beschluss vom 25.02.2022 - 2 B 27/22 -, jeweils juris).

27 Aus diesem Grund haben auch andere Mitgliedstaaten bereits Überstellungen nach Kroatien mit Blick auf die Möglichkeit der Verletzung von Art. 3 EGrCh ausgesetzt. Laut eines CPT-Reports waren dies Italien (2019), Slowenien (2020) und die Schweiz (2020), in denen jeweils auch Gerichtsentscheidungen die Überstellungen untersagten (Council of Europe, Report tot he Croatian Government on the visit to Croatia carried out by the European Commettee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment from 10 to 14 August 2020 (CPT-Report 2020), S. 16). [...]

30 Auch im CPT-Report werden gravierende Menschenrechtsverletzungen an der kroatischen Grenze festgestellt. Nach dem Report beklagten verschiedene Personen schwere Misshandlungen durch die Polizisten, während sie festgenommen und anschließend zurück über die Grenze gebracht worden seien. Unter anderem habe die Polizei knapp an ihnen vorbeigeschossen, während sie auf dem Boden gelegen hätten, oder sie seien mit gefesselten Händen in einen Fluss geworfen worden. Manche seien gezwungen worden, ohne Schuhe und nur mit Unterwäsche am Körper, manchmal ganz nackt, durch den Wald über dieGrenze zu laufen (CPT Report 2020, S. 14).

31 Diese menschenrechtswidrigen Praktiken durch Polizeibeamte wurden auch bestätigt durch einen anonymen Beschwerdebrief von kroatischen Polizisten des Grenzschutzes an die kroatische Ombudsfrau, in dem die Polizeibeamten schilderten, dass sie von ihren Vorgesetzten angewiesen seien, jede Person ohne Papiere zurückzuschicken, keine Spuren zu hinterlassen, deren Geld zu nehmen, Mobiltelefone zu zerstören und die Flüchtlinge gewaltsam nach Bosnien zurückzuschicken (Border Violence Monitoring Network,https://www.borderviolence.eu/complaint-by-croatian-police-officers-who-are-being-urged-to-act-unlawfully/, besucht am 01.09.2022).

32 Die Frage, ob diese schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen seitens des kroatischen Staates auch Dublin-Rückkehrer (zum Zeitpunkt ihrer Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss) betreffen, kann hier aber zunächst offen bleiben. [...]