LG Paderborn

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Zitieren als:
LG Paderborn, Beschluss vom 21.09.2022 - 5 T 136/22 - asyl.net: M30952
https://www.asyl.net/rsdb/m30952
Leitsatz:

Dublin-Abschiebungshaft nach Abbruch eines Überstellungsversuch rechtswidrig:

1. Gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 6 AufenthG wird Fluchtgefahr widerleglich vermutet, wenn die betroffene Person ausdrücklich erklärt hat, dass sie sich der Abschiebung entziehen will.

2. Wird eine Abschiebung aufgrund von Äußerungen der betroffenen Person gegenüber dem Flugpersonal oder der Pilotin/dem Piloten abgebrochen, kann Fluchtgefahr nur dann vermutet werden, wenn die betroffene Person klar einen Entziehungswillen und damit die fehlende Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise zum Ausdruck bringt. Nicht ausreichend ist, wenn sie begründete Einwände gegen die Beförderung vorbringt.

3. Erfolgen keine weiteren Feststellungen über den genauen Inhalt der Aussage der betroffenen Person an Bord des Flugzeugs, kann nicht festgestellt werden, ob die Pilotin/der Pilot die Beförderung des vernünftigerweise abgelehnt hat. Fluchtgefahr kann dann nicht gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 6 AufenthG vermutet werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Fluchtgefahr, Abschiebungsversuch, Flugzeug, Pilot, Beförderung, Weigerung,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 3a Nr. 6, AufenthG § 62 Abs. 3 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 28 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Auf die Beschwerde des Betroffenen vom 11.05.2022 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Paderborn vom 09.05.2022 wird festgestellt, dass der Betroffene durch den Beschluss des Amtsgerichts Marl vom 29.03.2022 in der Zeit ab Eingang des Haftaufhebungsantrags am 04.05.2022 bis zur Entlassung aus der Haft wegen Rücküberstellung am 09.05.2022 in seinen Rechten verletzt wurde. [...]

1. Die Beschwerde ist gem. §§ 58, 62 FamFG zulässig, insbesondere form- und fristgemäß eingelegt. Auf Seiten des Betroffenen besteht aufgrund der potentiellen Rechtsverletzung durch die Inhaftierung aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Marl vom 29.03.2022 das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche Feststellungsinteresse für eine Entscheidung im Fortsetzungsfeststellungsverfahren, nachdem sich der unter dem 04.05.2022 gestellte Antrag auf Haftaufhebung nach Rücküberstellung des Betroffenen erledigt und das Amtsgericht Paderborn den Feststellungsantrag zurückgewiesen hatte.

2. In der Sache hat die Beschwerde des Betroffenen Erfolg. Der Feststellungsantrag ist begründet. Die Vollziehung der Haft aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts Marl vom 29.03.2022 war im Zeitraum 04.05.2022 bis zur Entlassung am 09.05.2022 durch Rücküberstellung rechtswidrig. Nach Ansicht der Kammer rügt die Beschwerde zu Recht, dass aufgrund der Feststellungen des Amtsgerichts Marl in dem Haftbeschluss der Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr nicht angenommen werden kann. [...] Der Beteiligte zu 2) hat die Annahme der Fluchtgefahr auf die widerlegliche Vermutung des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3a Nr. 6 AufenthG gestützt. Danach wird Fluchtgefahr widerleglich vermutet, wenn der Ausländer ausdrücklich erklärt hat, sich der Abschiebung entziehen zu wollen. Der Ausländer muss dabei klar zum Ausdruck bringen, dass er nicht freiwillig ausreisen und sich auch nicht für eine behördliche Durchsetzung seiner Rückführung zur Verfügung halten werde [...]. Aufgrund der amtsgerichtlichen Feststellungen zum Verhalten des Betroffenen im Rahmen des Fluges am 29.03.2022 ist nach Ansicht der Kammer eine Bewertung, ob der Betroffene in der Situation klar einen Entziehungswillen und damit die fehlende Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise zum Ausdruck gebracht hat, oder aber begründete Einwände gegen die Beförderung an dem Tag vorgebracht hat, nicht möglich. Da keine weiteren Feststellungen über den genauen Inhalt der Aussage des Betroffenen an Bord des Flugzeugs im Rahmen des amtsgerichtlichen Verfahrens erfolgt sind, kann auch nicht festgestellt werden, ob der Pilot die Beförderung des Betroffenen vernünftigerweise abgelehnt hat. Auch die weiteren Feststellungen des Amtsgerichts begründen nicht die Annahme einer Fluchtgefahr, da insbesondere die Angaben des Betroffenen im Rahmen der persönlichen Anhörung keinen zwingenden Rückschluss zulassen. [...] Da die Rechtswidrigkeit bereits wegen eines fehlenden Haftgrundes festzustellen war, bedarf es zu den übrigen Einwendungen der Beschwerde keiner weiteren Ausführungen. [...]