Vorlage an EuGH zu den Folgen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen EU-Mitgliedstaat:
Droht in einem Mitgliedstaat, in dem einer schutzsuchenden Person die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, kann der Asylantrag nicht gemäß Art. 33 Abs. 2 Bst. 1 Asylverfahrensrichtlinie [RL 2013/32/EU; § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG] wegen der Zuerkennung internationalen Schutzes als unzulässig abgelehnt werden. Zu klären ist, ob die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den prüfenden Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen und ggf. abzulehnen oder ob er dazu verpflichtet ist, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des anderen Mitgliedstaats zu berücksichtigen.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-297/17; C-318/17; C-319/17, C-438/17 - Ibrahim u.a., Magamadov gg. Deutschland - Asylmagazin 5/2019, S. 195 f. - asyl.net: M27127)
[...]
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgender Frage eingeholt:
Sind in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen darf, weil die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat den Antragsteller der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC aussetzen würden, Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) 604/2013, Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 RL 2011/95/EU sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a RL 2013/32/EU dahin auszulegen, dass die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen, und ihn dazu verpflichtet, ohne Untersuchung der materiellen Voraussetzungen dieses Schutzes dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen? [...]
Die Klägerin, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) als subsidiär schutzberechtigt anerkannt worden ist, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die 1999 geborene Klägerin ist syrische Staatsangehörige, der bereits 2018 in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Sie kann nicht nach Griechenland zurückkehren, weil ihr dort nach der rechtskräftigen Entscheidung eines Verwaltungsgerichts die ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC drohen würde. Das Bundesamt gewährte ihr mit Bescheid vom 1. Oktober 2019 subsidiären Schutz und lehnte ihren Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab.
Die hierauf gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgewiesen, der geltend gemachte Anspruch folge nicht bereits daraus, dass der Klägerin in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. In der Sache sei der Antrag der Klägerin unbegründet, weil ihr in Syrien keine Verfolgung drohe.
Zur Begründung ihrer vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision macht die Klägerin in erster Linie geltend, dass die Beklagte an die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gebunden sei. [...]
Der Rechtsstreit ist auszusetzen, weil sein Ausgang von einer vorab einzuholenden Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die Auslegung der Verträge abhängt (Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV -). Die Frage betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 [...] sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 S. 60; nachfolgend RL 2013/32/EU). [...]
2. Am innerstaatlichen Recht gemessen steht der Klägerin nach § 3 Abs. 4 Halbs. 1 i. V. m. Abs. 1 AsylG kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu (a). Der Senat kann jedoch ohne eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) nicht feststellen, ob dieses Verständnis des § 3 Abs. 4 Halbs. 1 i. V. m. Abs. 1 AsylG mit Unionsrecht – nämlich mit Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) 604/2013, Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 RL 2011/95/EU sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a RL 2013/32/EU – vereinbar ist. [...]
a) Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich, weil der Klägerin gemäß nationalem Recht nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zusteht.
Ein solcher Anspruch ergibt sich zunächst nicht im Hinblick auf die individuelle Situation der Klägerin aus § 3 Abs. 4 Halbs. 1 i. V. m. Abs. 1 AsylG. Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts hat das Vorbringen der unverfolgt ausgereisten Klägerin und die tatsächlichen Verhältnisse in Syrien in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dahin beurteilt, dass ihr bei – einer hypothetischen – Rückkehr dorthin nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgung droht. [...]
Nach dem nationalen Recht steht der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auch nicht bereits wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Griechenland zu. Die hiervon ausgehenden Rechtswirkungen sind nationalrechtlich in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abschließend geregelt. Danach schließt die für einen bestimmten Staat ausgesprochene ausländische Anerkennung als Flüchtling die Abschiebung in diesen Staat auch für Deutschland aus. Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung angeordnet, aus der aber kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt (vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - BVerwGE 150, 29 Rn. 29 und vom 30. März 2021 - 1 C 41.20 - NVwZ 2022, 66 Rn. 32). [...]
Eine andere Rechtslage ergibt sich entgegen der Auffassung der Revision auch nicht aus dem Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. September 2020 - 2 BvR 2082/18 [...], nach dem eine Abschiebung in den Herkunftsstaat im Falle einer bereits erfolgten Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat untersagt ist. Es kann dahinstehen, ob eine ausländische Flüchtlingsanerkennung auch dann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG oder unionsrechtlichen Normen begründet, wenn eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – wie hier – ausgeschlossen ist [...]. Denn auch wenn dies der Fall sein sollte, bestätigte das lediglich die im Gesetz angeordnete, auf den Abschiebungsschutz beschränkte Rechtswirkung ausländischer Zuerkennungen (jedenfalls) des Flüchtlingsstatus. Eine umfassende Bindung an durch andere Mitgliedstaaten ausgesprochene Statusentscheidungen dergestalt, dass ein ausnahmsweise zur erneuten Durchführung eines Asylverfahrens verpflichteter Mitgliedstaat das im ersten Mitgliedstaat gefundene Ergebnis ungeprüft übernehmen müsste, lässt sich der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingegen nicht entnehmen.
b) Der vorlegende Senat hält für klärungsbedürftig, ob die im Tenor des Beschlusses genannten Vorschriften des Unionsrechts in Fällen wie dem vorliegenden einer ergebnisoffenen Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz durch die Beklagte entgegenstehen.
Eine solche Bindungswirkung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union für einen anderen Mitgliedstaat aufgrund primären Unionsrechts dürfte zur Überzeugung des Senats ausgeschlossen sein (aa). Ob sie sich aus sekundärem Unionsrecht ergeben könnte (bb), erscheint dem Senat demgegenüber durch den Gerichtshof klärungsbedürftig (cc).
(aa) Nach Art. 78 Abs. 1 Satz 1 AEUV entwickelt die Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz. [...]
Daraus folgt aber keine Bindung an die in einem anderen Mitgliedstaat getroffene Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Dem Eintritt einer derart weitreichenden Rechtsfolge steht entgegen, dass die Union bislang gerade keinen einheitlichen Schutzstatus im Sinne des Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV geschaffen hat. [...]
(bb) Auch das Sekundärrecht der Union kennt keine Regelung des verfahrensrechtlichen oder des materiellen Flüchtlingsrechts, die ausdrücklich eine Bindung an die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Mitgliedstaat für das Asylverfahren eines anderen Mitgliedstaates vorschreibt. Dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Senats (BVerwG, Urteile vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - BVerwGE 150, 29 Rn. 29 und vom 30. März 2021 - 1 C 41.20 - BVerwGE 172, 125 Rn. 32).
Vom Gerichtshof bisher nicht entschieden und auch sonst nicht offenkundig ist indes, ob sich eine Bindungswirkung mitgliedstaatlicher Anerkennungsentscheidungen im Asylverfahren gleichwohl aus dem in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) zum Ausdruck kommenden allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz herleiten lässt, dass der Asylantrag eines Antragstellers (allein) von einem einzigen Mitgliedstaat inhaltlich geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das ein zentraler Grundsatz der Dublin III-Verordnung, der dem GEAS generell zugrunde liegt (EuGH, Urteil vom 2. April 2019 - C-582/17 u. a. [ECLI:EU:C:2019:280] - Rn. 78) und der deshalb auch in Fällen zum Tragen kommen könnte, die – wie derjenige der Klägerin – nicht nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zu beurteilen sind. Danach könnte eine inhaltliche Prüfung in einem einzigen Mitgliedstaat – unabhängig vom Prüfungsergebnis – in allen anderen Mitgliedstaaten Geltung beanspruchen.
Auch der Wortlaut der Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 RL 2011/95/EU steht einer Auslegung nicht entgegen, dass es für die Anerkennung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union allein auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat ankommen könnte. Während Art. 4 Abs. 1 Satz 2 RL 2011/95/EU bestimmt, dass es die Pflicht des Mitgliedstaates ist, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen, regelt Art. 13 RL 2011/95/EU, dass die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II – Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz – und Kapitel III – Anerkennung als Flüchtling – erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen. In der Zusammenschau könnten diese beiden verfahrensrechtlichen Vorgaben dahin auszulegen sein, dass allein die Zuerkennung des internationalen Schutzstatus in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union maßgeblich ist, der damit in allen Mitgliedstaaten ohne weitere Überprüfung anzuerkennen ist. [...]
Die in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU den Mitgliedstaaten eröffnete Möglichkeit, auf eine Sachentscheidung für den Fall zu verzichten, dass ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat – für die Bundesrepublik Deutschland in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG geregelt –, könnte als Ausdruck des Grundsatzes einer einzigen inhaltlichen Prüfung eines Asylantrags in einem einzigen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu verstehen sein. [...]
Vor diesem Hintergrund ist nach den Rechtsfolgen zu fragen, die der Wegfall der Befugnis zum Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU auslöst. [...]
Gewisse Anhaltspunkte für eine Bindungswirkung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergeben sich möglicherweise allerdings auch daraus, dass die Verneinung dieser Rechtsfolge zu einer Umgehung der speziellen Regeln für das Erlöschen, den Ausschluss und die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (Art. 11, 12 und 14 RL 2011/95/EU) führen könnte. [...]
(cc) Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs kann zur Überzeugung des Senats weder in die eine noch in die andere Richtung mit Gewissheit zur Beantwortung der aufgeworfenen Bindungsfrage herangezogen werden. Namentlich der Beschluss des Gerichtshofs in der Rechtssache "Hamed u. a." (EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 u. a. -) verhält sich zur Art und Weise der Durchführung eines neuen Asylverfahrens nicht hinreichend eindeutig. [...]