VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 10.06.2022 - 2 K 136/20 - asyl.net: M30937
https://www.asyl.net/rsdb/m30937
Leitsatz:

Zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot hinsichtlich Ghanas wegen Diabetes Typ 1:

1. Ein Aufenthaltstitel kann auch für die Vergangenheit ab Antragstellung beansprucht werden, wenn ein schutzwürdiges Interesse daran besteht. Das ist der Fall, wenn die rückwirkende Erteilung - wie hier - Auswirkungen auf die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung der betroffenen Person haben kann, z.B. hinsichtlich der für eine Niederlassungserlaubnis erforderlichen Aufenthaltszeit mit Aufenthaltserlaubnis.

2. Dem an einer schweren Form des Diabetes Typ 1 leidende Kläger hätte in Ghana nicht die erforderliche Behandlung zur Verfügung gestanden, denn auch wenn Diabetes Typ 1 in Ghana grundsätzlich behandelbar sein mag, ist entscheidend, ob Betroffene diese erreichen können und über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen, um diese zu erlangen.

3. Es gibt in Ghana zwar eine öffentliche Krankenversicherung (NHIS), allerdings wird die medizinische und medikamentöse Versorgung von NHIS-Versicherten von Vorauszahlungen abhängig gemacht. Es wird berichtet, dass es mehrere Monate dauert, bis eine entsprechende Krankenkassenkarte aktiviert ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ghana, Krankheit, medizinische Versorgung, Diabetes mellitus, Diebates Typ 1, Krankenversicherung, rückwirkende Erteilung, Aufenthaltserlaubnis,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 25 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

Ein Ausländer kann für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, der nach der Antragstellung liegt, die Erteilung eines Aufenthaltstitels beanspruchen, wenn er ein schutzwürdiges Interesse hieran hat. Das gilt unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren Zeitraum bereits erteilt worden ist oder nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 7.08 -, juris Rn. 13). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt ein solches schutzwürdiges Interesse vor, wenn der Zeitpunkt, von welchem an das Aufenthaltsrecht zuerkannt wird, für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Ausländers erheblich sein kann (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2020 - 1 C 12.19 -, juris Rn. 17 m.w.N.). [...]

1. Die Ausländerbehörde der Beklagten war für die Entscheidung über das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Absatz 5 oder 7 Satz 1 AufenthG und das Vorliegen eines Ausschlusstatbestandes nach § 25 Absatz 3 Satz 3 Nr. 1 bis 4 AufenthG sachlich (und auch örtlich) zuständig, weil der Kläger keinen Asylantrag gestellt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2006 - 1 C 14.05 -, juris Rn. 12). Die Entscheidung hätte gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG unter Beteiligung des Bundesamtes ergehen müssen.

2. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG lagen vor. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gemäß Satz 3 liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden.

a) Der Kläger litt und leidet zur Überzeugung des Einzelrichters an einer unheilbaren insulinabhängigen Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit - Typ-1-Diabetes). Das ergibt sich bereits aus den vom Kläger im Verwaltungsverfahren eingereichten Unterlagen des Gesundheitsamtes der Beklagten (Bescheinigung vom 19. März 2019 sowie Verschreibungen einschlägiger Insulinpräparate). In der mündlichen Verhandlung legte der Kläger zudem aktuelle Tagebücher für die Insulintherapie mit festem Spritzschema sowie einen Laborbericht vom 27. April 2022 vor. Auf Nachfrage des Gerichts erklärte der Kläger, dass er gegenwärtig an einer schweren insulinabhängigen Diabetes leide. [...]

Es steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass für den an einer schweren Form der Diabetes vom Typ 1 leidenden Kläger in Ghana im streitgegenständlichen Zeitraum nicht rechtzeitig die erforderliche Behandlung für seine Erkrankung zur Verfügung gestanden hätte, um eine erhebliche Verschlechterung der Krankheitssymptome bis hin zum Tod zu verhindern. Nach der glaubhaften Einlassung des Klägers konnte und kann bei ihm bereits eine stundenweise Unterbrechung der Insulinzufuhr zum raschen Blutzuckeranstieg und zu einer Stoffwechselentgleisung führen. Bei einer tageweisen Unterbrechung der Behandlung würde ein Koma folgen, das zum Tode führen könnte. Zwar spricht einiges dafür, dass erforderliche ärztliche Maßnahmen im Fall des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum auch in Ghana hätten durchgeführt werden können. Neben der verbesserten privaten Versorgung besteht seit 2006 eine staatliche Krankenversicherung NHIS (National Health lnsurance Scheme) mit dem Ziel, eine medizinische Grundversorgung für die breite Bevölkerung bereitzustellen. Die medizinische und medikamentöse Versorgung wird jedoch vielfach auch für Versicherte der NHIS von Vorauszahlungen abhängig gemacht. Bei der Kranken- bzw. Gesundheitsversorgung in Ghana geht es deshalb immer mehr um die Frage, ob die finanziellen Mittel beim Einzelnen vorhanden sind, um eine medizinisch adäquate Behandlung zu erhalten, als um die Frage, ob die medizinische Versorgung generell im Land vorhanden ist. Letztere ist zunehmend gewährleistet, allerdings nur für diejenigen, für die sie erschwinglich und erreichbar ist (Auswärtiges Amt, Bericht im Hinblick auf die Einstufung der Republik Ghana als sicheres Herkunftsland im Sinne des § 29a AsylG vom 29. Februar 2020, S. 22, 23 und vom 13. Mai 2021, i.d.F. vom 20. September 2021, S. 23, 24). Es ist nicht ersichtlich und war dem Kläger auch nicht zuzumuten, dass er die erforderlichen finanziellen Mittel etwa durch Arbeit oder durch familiäre Unterstützung rechtzeitig beschafft haben könnte. Überdies wird berichtet, dass bei Versicherten der staatlichen Krankenversicherung NHIS die Krankenversicherungskarte regelmäßig erst nach mehreren Monaten aktiviert wurde (VG Schwerin, Urteil vom 22. Juni 2018 - 15 A 851/16 As SN -, juris). [...]