VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 22.08.2022 - 5 K 3492/21.A - asyl.net: M30931
https://www.asyl.net/rsdb/m30931
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für alleinerziehende Mutter hinsichtlich Nigerias:

Alleinstehende Frauen sind von der problematischen wirtschaftlichen und sozialen Lage in Nigeria besonders betroffen. Einer alleinerziehenden Mutter dreier minderjähriger Kinder, die nur über rudimentäre Bildung und keine nennenswerte Berufserfahrung verfügt, droht in Nigeria existenzielle Not und Verelendung.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.05.2021 - 19 A 4604/19.A - asyl.net: M29649)

Schlagwörter: Nigeria, Abschiebungsverbot, alleinerziehend, alleinstehende Frauen, Kindeswohl, Frauen,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Den Klägerinnen würde bei einer Rückkehr nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen. [...]

Abschiebungsschutz im Hinblick auf die dort herrschenden Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage kann der Ausländer in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur dann ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund der Lebensbedingungen in Nigeria, insbesondere wegen der dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und der zusammenhängenden Versorgungslage, mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre [...]

Die allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage ist schon für die Mehrheit der Bevölkerung in Nigeria problematisch. Rund 70 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. [...]

Von dieser Situation ist im besonderen Maße die Gruppe der alleinstehenden Frauen betroffen, da nach der derzeitigen Erkenntnislage die Situation für diese Gruppe besonders schwierig ist. Bereits der größere Teil der von Armut betroffenen Bevölkerung sind Frauen. Die alleinstehenden Frauen sind darüber hinaus vielen Arten von Diskriminierung ausgesetzt und durch das Merkmal "alleinstehend" vielfach stigmatisiert. Sie finden meist nur schwer eine Unterkunft und eine berufliche Tätigkeit in Nigeria, dies umso weniger, je geringer die Schul- bzw. Berufsausbildung ist. [...]

Nach diesen Maßgaben besteht zur Überzeugung des Gerichts im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO im vorliegenden konkreten Einzelfall auf Grundlage der Angaben der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung und des Eindrucks, den sich das erkennende Gericht in der mündlichen Verhandlung von den individuellen Umständen der Klägerin zu 1. (der Mutter der minderjährigen Klägerin zu 2.), ihrer Bildung, ihren beruflichen Fähigkeiten, ihrer familiären Situation und ihres ökonomischen Status sowie ihrer Kontakte in Nigeria gemacht hat, die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage für die Klägerinnen bei einer Rückkehr nach Nigeria, die eine verfassungskonforme Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Einzelfall erfordert. [...]

Die Klägerin zu 1, von der die Klägerin zu 2. als minderjähriges Kind abhängig ist, hat in Nigeria keine gesicherten Familienstrukturen, auf deren Unterstützung sie zählen könnte; sie würde prognostisch im Familienverband mit ihren drei minderjährigen Töchtern (u.a. der Klägerin zu 2.) als alleinerziehende Mutter - der im Bundesgebiet gelebten Kernfamilie - zurückkehren. [...]

Die Klägerin zu 1. hat zudem nur eine rudimentäre Grundschulbildung genossen und - abgesehen von einer zeitweisen Ausbildung im Frisieren - keine nennenswerte Berufserfahrung gesammelt. Unterstützung von den beiden Vätern ihrer Töchter ist nicht zugrunde zu legen, weil insoweit kein gelebter Familienverband nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besteht, vielmehr besteht zu diesen kein Kontakt. Bei dieser Ausgangslage ist zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) davon auszugehen, dass die Klägerinnen bei einer gedachten Rückkehr gemeinsam mit den beiden weiteren Töchtern der Klägerin zu 1. (den Geschwistern der Klägerin zu 2.) nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit existenzieller Not und der Gefahr der Verelendung ausgesetzt würde. [...]