Art. 3 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie ist nicht auf Familienangehörige anwendbar, die nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit zusammen wohnen:
Zusammenleben gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie (2004/38/EG) bedeutet, dass die familienangehörige Person zur EU-staatsangehörigen Person in einem Abhängigkeitsverhältnis steht, das auf engen und festen, im selben Haushalt im Rahmen einer häuslichen Lebensgemeinschaft entstandenen persönlichen Beziehungen beruht, die über ein bloßes vorübergehendes Zusammenwohnen aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen hinausgeht.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
17 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof darum, die Wendung "jeder Familienangehörige, der mit dem primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt", im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 in einer Weise auszulegen, bei der die dabei zu berücksichtigenden Kriterien präzisiert werden. [...]
20 Zur Auslegung des Wortlauts von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in einer der Sprachfassungen einer unionsrechtlichen Vorschrift verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen beanspruchen kann. [...]
21 Im vorliegenden Fall lassen sich zwar die in einigen Sprachfassungen von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 wie der spanischen ("viva con"), der italienischen ("convive") oder der niederländischen Fassung ("inwonen") verwendeten Begriffe dahin auslegen, dass sie auf ein bloßes Zusammenwohnen unter demselben Dach Bezug nehmen, doch bezeichnen die in anderen Sprachfassungen dieser Vorschrift verwendeten Begriffe das häusliche Leben und die Gesamtheit der mit einer familiären Lebensgemeinschaft im selben Haushalt zusammenhängenden Tätigkeiten und Angelegenheiten, was mehr impliziert als die bloße gemeinsame Nutzung derselben Wohnstätte oder ein bloßes vorübergehendes Zusammenwohnen aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen. Dies gilt insbesondere für die tschechische ("domácnost"), die deutsche ("häusliche Gemeinschaft"), die estnische ("leibkond"), die englische ("household"), die französische ("ménage"), die ungarische ("háztartás"), die portugiesische ("comunhão de habitação"), die slowakische ("domácnosť") und die finnische ("samassa taloudessa") Fassung dieser Vorschrift.
22 Der Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 enthält auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass bei der Auslegung dieser Vorschrift auf den Begriff des Haushaltsvorstands abzustellen wäre. [...]
23 Die Auslegung des Wortlauts von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38, wonach ein Familienangehöriger nur dann unter diese Vorschrift fallen kann, wenn zu dem betreffenden Unionsbürger eine Beziehung besteht, die mehr impliziert als ein bloßes Zusammenwohnen aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen, wird durch seinen Kontext bestätigt. [...]
24 Eine solche Auslegung wird zudem durch das Ziel von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 gestützt, das im Licht ihres sechsten Erwägungsgrundes darin besteht, "die Einheit der Familie im weiteren Sinne zu wahren", indem die Einreise und der Aufenthalt von Personen erleichtert werden, die zwar nicht zu einer der in Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie definierten Kategorien von "Familienangehörigen" eines Unionsbürgers gehören, aber aufgrund besonderer tatsächlicher Umstände enge und feste familiäre Beziehungen zu ihm haben [...].
26 Unter diesen Umständen kann nur dann davon ausgegangen werden, dass ein Familienangehöriger mit einem Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat über ein Aufenthaltsrecht verfügt, im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 in häuslicher Gemeinschaft lebt, wenn er nachweist, dass eine enge und feste persönliche Beziehung zu diesem Unionsbürger besteht, die eine Situation echter Abhängigkeit zwischen diesen beiden Personen und eine häusliche Lebensgemeinschaft belegt, die nicht mit dem Ziel herbeigeführt wurde, in den Mitgliedstaat einreisen und sich dort aufhalten zu dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2012, Rahman u. a., C-83/11, EU:2012:519, Rn. 38).
27 Bei der Beurteilung der Frage, ob eine solche Beziehung vorliegt, stellt der Verwandtschaftsgrad zwischen dem Unionsbürger und dem betreffenden Familienangehörigen zwar einen zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 40 und 41 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, sind jedoch je nach den besonderen Umständen des Einzelfalls auch die Nähe der fraglichen familiären Beziehung sowie die Gegenseitigkeit und die Intensität der zwischen beiden Personen bestehenden Beziehung zu berücksichtigen. Diese Beziehung muss so beschaffen sein, dass dann, wenn der betreffende Familienangehörige daran gehindert wäre, mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat in häuslicher Gemeinschaft zu leben, zumindest eine der beiden Personen dadurch beeinträchtigt würde. [...]
29 Auch die Dauer der häuslichen Lebensgemeinschaft des Unionsbürgers mit dem betreffenden Familienangehörigen stellt einen wichtigen, bei der Beurteilung der Frage, ob eine feste persönliche Beziehung besteht, zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar. [...]
30 Folglich ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass die Wendung "jeder Familienangehörige, der mit dem primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger in häuslicher Gemeinschaft lebt", im Sinne dieser Bestimmung Personen bezeichnet, die zu dem betreffenden Unionsbürger in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, das auf engen und festen, im selben Haushalt im Rahmen einer häuslichen Lebensgemeinschaft entstandenen persönlichen Beziehungen beruht, die über ein bloßes vorübergehendes Zusammenwohnen aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen hinausgeht. [...]