EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 15.09.2022 - C-420/20 HN gg. Bulgarien - asyl.net: M30923
https://www.asyl.net/rsdb/m30923
Leitsatz:

Kein Strafverfahren in Abwesenheit bei Einreiseverbot:

Eine Verhandlung in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durchzuführen, widerspricht der Art. 8 Abs. 2 RL 2016/343/EU [Richtlinie über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren], wenn sich diese Person außerhalb des Mitgliedstaates befindet und es ihr aufgrund eines gegen sie verhängten Einreiseverbots unmöglich ist, in das Hoheitsgebiet einzureisen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Rückkehrentscheidung, Strafverfahren, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Unionsrecht, Verhandlung in Abwesenheit,
Normen: RL 2016/343/EU Art. 8 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

48 Nach Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern diese Person rechtzeitig über die Verhandlung und die Folgen des Nichterscheinens zu dieser Verhandlung unterrichtet wurde oder, nachdem sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von ihr oder vom Staat bestellt wurde.

49 Freilich betrifft keine der in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen ausdrücklich die Möglichkeit für die betreffende Person, sich physisch in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem die sie betreffende Verhandlung stattfindet, zu begeben, um dort anwesend zu sein. [...]

59 Ein Mitgliedstaat, der sich darauf beschränken würde, die betroffene Person, der er die Einreise in sein Hoheitsgebiet verbietet, über die sie betreffende Verhandlung zu unterrichten, ohne unter solchen Umständen Maßnahmen vorzusehen, die es erlauben würden, ihre Einreise trotz dieses Verbots zu gestatten, würde dieser Person die tatsächliche Möglichkeit entziehen, ihr Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung wirksam auszuüben, und damit den in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen jede praktische Wirksamkeit nehmen.

60 Ein solcher Fall unterscheidet sich nämlich von dem, in dem die betreffende Person freiwillig und unmissverständlich auf ihr Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung verzichtet.

61 Nach alledem ist davon auszugehen, dass Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 einem Mitgliedstaat implizit verwehrt, eine Verhandlung in Abwesenheit der betreffenden Person durchzuführen, der er die Einreise in sein Hoheitsgebiet verbietet, ohne Maßnahmen vorzusehen, die es ermöglichen, ihre Einreise trotz dieses Verbots zu gestatten.

62 Da der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, dass im vorliegenden Fall der Betroffene aufgrund eines von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem die ihn betreffende Verhandlung stattfindet, gegen ihn verhängten Einreiseverbots an der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gehindert ist, ist noch zu prüfen, ob die Richtlinie 2008/115 dem entgegensteht, dass der betreffende Mitgliedstaat in einem solchen Fall das gegen diese Person verhängte Einreiseverbot aufhebt oder aussetzt. [...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die Verdächtige und beschuldigte Personen verpflichtet, in Strafverfahren in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

2. Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die es zulässt, eine Verhandlung in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durchzuführen, wenn sich diese Person außerhalb dieses Mitgliedstaats befindet und es ihr aufgrund eines von den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats gegen sie verhängten Einreiseverbots unmöglich ist, in dessen Hoheitsgebiet einzureisen.