VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 05.09.2022 - 12 L 599/22.A - asyl.net: M30896
https://www.asyl.net/rsdb/m30896
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Polen wegen der Inhaftierung von Kindern:

"In Polen werden neben erwachsenen Asylbewerbern auch Kinder aus einer Reihe von Gründen (z.B. Identitätsabklärung, Fluchtgefahr, Sicherheitsgründe) inhaftiert. Laut NGOs herrschen in den Haftzentren keine kindgerechten Unterbringungsbedingungen. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer Aufklärung in der Hauptsache, ob auch Antragsteller mit minderjährigen Kindern, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Polen (zurück)überstellt werden, inhaftiert werden und wenn ja, welche Bedingungen dann in den Haftzentren für diese Gruppe der Antragsteller genau gelten."

(Amtliche Leitsätze)

Siehe auch:

Schlagwörter: Polen, Dublinverfahren, minderjährig, Haft, Suspensiveffekt, vorläufiger Rechtsschutz, Haftbedingungen, Dublin III-Verordnung, Kindeswohl,
Normen: VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, EMRK Art. 3, Art. 4 GR-Charta, AsylG § 34a Abs. 2,
Auszüge:

[...]

c) Der Überstellung der Antragsteller nach Polen steht aber entgegen, dass nach derzeitigem Sach- und Streitstand offen ist, ob sie im Falle ihrer Überstellung dorthin aufgrund systemischer Schwachstellen der dortigen Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GrCh ausgesetzt sein werden (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013). [...]

Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC kann auch in einer Inhaftierung eines Asylbewerbers liegen. Art. 3 EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind. [...] Rufen die Haftbedingungen in ihrer Gesamtheit Gefühle der Willkür und die damit oft verbundenen Gefühle der Unterlegenheit und der Angst sowie die tiefgreifenden Wirkungen auf die Würde einer Person hervor, verstoßen sie gegen Art. 3 EMRK. [...]

Nach diesen Vorgaben ist nach aktuellem Kenntnisstand offen, ob den Antragstellern im Falle ihrer Überstellung nach Polen eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im eben beschriebenen Sinne droht.

In Polen werden neben erwachsenen Asylbewerbern auch Kinder aus einer Reihe von Gründen (z.B. Identitätsabklärung, Fluchtgefahr, Sicherheitsgründe) inhaftiert. Im Jahr 2021 waren hiervon 567 Kinder betroffen (davon waren 486 in Begleitung ihrer Eltern, bei 81 handelte es sich um unbegleitete Minderjährige). Die Verweildauer in einem Haftzentrum beträgt zwischen 52 Tagen und 5 Monaten (letzteres im sogenannten rigorosen Haftzentrum). Die Inhaftierung von Kindern wird automatisch angeordnet, ohne individuelle Bewertung ihrer Situation und Bedürfnisse. Auch hören die Gerichte die Kinder nicht an. Medizinische und psychologische Untersuchungen finden nicht statt, stattdessen stützten sich die Gerichte auf die von den Grenzschutzbeamten vorgelegten Dokumente. Laut NGOs herrschen in den Haftzentren keine kindgerechten Unterbringungsbedingungen. Die Familien werden in Zentren untergebracht, in denen früher nur Männer untergebracht waren. In der Praxis bedeutet dies, dass die Infrastruktur nicht an die Bedürfnisse von Minderjährigen angepasst ist. Zudem sehen die Haftzentren wie Gefängnisse aus. Die Kinder gehen nicht in reguläre Schulen. Schulen in der Nähe einiger Haftanstalten entsenden Lehrer in die Haftanstalten, wo die Kinder dann in speziell geschaffenen Unterrichtsräumen unterrichtet werden. Während der COVID-19 Pandemie mussten die Kinder - genauso wie polnische Schüler - online am Unterricht teilnehmen, was viele Probleme verursachte, da die Eltern keine Unterstützung bei der Erklärung der Aufgaben von der Schule erhielten.

Auch äußerte der Menschenrechtskommissar im Januar 2022 in einem Schreiben an die Präsidenten der Regionalgerichte (Prezesów Sądów Okręgowych) unter anderem seine Besorgnis über die Inhaftierung von Familien mit Kindern. Er betonte, dass keines der Haftzentren ein geeigneter Ort für Kinder sei. Ihm zufolge könne die Inhaftierung negative und irreversible Auswirkungen auf die Entwicklung und den psycho-physischen Zustand eines Kindes haben, insbesondere bei einer traumatischen Migrationserfahrung, da diese Einrichtungen keine geeigneten Orte für Kinder seien. [...]

Aus den vorliegenden Erkenntnissen ergibt sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit, ob eine Inhaftierung zu den oben beschriebenen Haftbedingungen auch Asylbewerbern die - wie hier die Antragsteller - im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Polen (zurück)überstellt werden, droht. Vor diesem Hintergrund bedarf es einer Aufklärung in der Hauptsache, ob auch Antragsteller mit minderjährigen Kindern, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Polen (zurück)überstellt werden, inhaftiert werden und wenn ja, welche Bedingungen dann in den Haftzentren für diese Gruppe der Antragsteller genau gelten. [...]