VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 11.04.2022 - 13 K 3721/20 - asyl.net: M30892
https://www.asyl.net/rsdb/m30892
Leitsatz:

Aufenthaltserlaubnis für gut integrierte Heranwachsende bei unrichtiger Aufenthaltsgestattung und außerschulischen Integrationsleistungen:

"1. Eine unrichtige, von der materiellen Rechtslage abweichende Bescheinigung über die Aufenthalts­gestattung (§ 63 Abs. 1 Satz 1 AsylG) begründet keine Rechtsposition des betroffenen Ausländers (Rn. 21).

2. Bei der Prüfung einer Ausnahme vom Regelerfordernis eines vierjährigen Schulbesuchs (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 AufenthG) sind nicht nur besondere schulische, sondern auch außerschulische Integrationsleistungen zu berücksichtigen (Rn. 22).

3. Inwieweit außerschulische Integrationsleistungen den erforderlichen Schulbesuch in zeitlicher Hinsicht "ersetzen" können, ist einzelfallbezogen unter Beachtung des in § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG angelegten Regel-Ausnahme-Verhältnisses zu beurteilen (Rn. 24).

4. Dieses ist jedenfalls dann nicht mehr gewahrt, wenn der Schulbesuch bei einer Gesamtbetrachtung deutlich hinter die außerhalb des schulischen Umfelds erbrachten Integrationsleistungen zurücktritt (Rn. 24)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Bleiberecht, Integration, Schulbesuch, außerschulische Integrationsleistungen, Aufenthaltsgestattung, Duldung,
Normen: AufenthG § 25a Abs. 1 S. 1, AsylG § 63 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

18 1. Die Klägerin hat den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vor Vollendung ihres 21. Lebensjahres gestellt – nämlich im November 2019 – und erfüllt damit zunächst die Voraussetzung des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. Dass sie die dort festgelegte Altersgrenze im Laufe des Verwaltungsverfahrens überschritten hat, steht grundsätzlich weder der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis mit Gültigkeit ab November 2019 noch einer etwaigen Verlängerung entgegen [...].

19 2. Allerdings darf die Voraussetzung des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht dadurch umgangen werden, dass nach Erreichen der Altersgrenze eingetretene Änderungen der Sachlage zugunsten des Betroffenen Berücksichtigung finden. Im Fall der Überschreitung der Altersgrenze während des laufenden Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens ist daher zu prüfen, ob die weiteren Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG und die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen sowohl zum Zeitpunkt des Erreichens der Altersgrenze als auch zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung in der Tatsacheninstanz erfüllt (gewesen) sind [...]. Dies ist vorliegend der Fall.

20 a) Die Klägerin war bzw. ist bei Vollendung ihres 21. Lebensjahres im Januar 2020 ebenso wie zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geduldete Ausländerin (§ 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG) mit einem den Anforderungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entsprechenden Voraufenthalt. Insbesondere hatte sie sich bereits bei Erreichen der Altersgrenze seit vier Jahren ununterbrochen erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufgehalten.

21 Der Aufenthalt der Klägerin war ab der Äußerung ihres Asylgesuchs am 15. Januar 2016 (siehe § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG a.F.) bis einschließlich 26. Juli 2019 gestattet; mit Eintritt der Unanfechtbarkeit der Entscheidung des Bundesamts am 27. Juli 2019 ist die Aufenthaltsgestattung gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG erloschen. Seit dem 10. Dezember 2019 hält sich die Klägerin durchgehend geduldet im Bundesgebiet auf. In der etwa viereinhalbmonatigen Zwischenzeit war ihr Aufenthalt zwar weder geduldet noch gestattet; die von der Beklagten am 26. August 2019 ausgestellte Bescheinigung gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 AsylG war angesichts des Erlöschens der Aufenthaltsgestattung unrichtig, ohne dass der Klägerin hieraus eine Rechtsposition erwachsen wäre [...]. Die Klägerin hatte jedoch ab dem 27. Juli 2019 einen Rechtsanspruch auf Duldung gemäß §60a Abs. 2 AufenthG, der einer rechtswirksamen Duldung in ihrer voraufenthaltsbegründenden Wirkung gleichsteht [...].

22 b) Die Voraussetzung des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist ebenfalls erfüllt. Zwar hatte die Klägerin bei Vollendung ihres 21. Lebensjahres erst für knapp dreieinhalb Jahre erfolgreich die Schule besucht, nämlich seit dem 1. August 2016. Soweit § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 AufenthG darüber hinaus einen in der Regel vierjährigen Schulbesuch verlangt, gilt aber aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls eine Ausnahme von der Erteilungsvoraussetzung. Grundlage hierfür ist die mit Wirkung zum 1. August 2015 erfolgte Umgestaltung des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG von einer zwingenden zu einer Regelerteilungsvoraussetzung, mit der der Gesetzgeber eine Aufenthaltsgewährung auch bei solchen jugendlichen und heranwachsenden Ausländern ermöglichen wollte, die schon vor der erfolgreichen Beendigung eines vierten Schuljahres bzw. dem Erwerb eines Schul- oder Berufsabschlusses anerkennenswerte Integrationsleistungen unter Beweis gestellt haben [...]. Diese (Ausnahme-)Voraussetzung lag bei der Klägerin zum Zeitpunkt der Vollendung ihres 21. Lebensjahres vor.

23 [...] Insgesamt ergibt sich für den Berichterstatter der Eindruck, dass die Klägerin seit Beginn ihres Aufenthalts im Bundesgebiet ernsthaft und erfolgreich darum bemüht war, möglichst schnell die deutsche Sprache zu erlernen und sich ein soziales Umfeld außerhalb ihrer Herkunftsfamilie zu erschließen, in das sie bis heute eingebunden ist. Hierin liegen bemerkenswerte Integrationsleistungen, die auch von der Beklagten als solche anerkannt werden (vgl. S. 2 des Widerspruchsbescheids) und sich in dem weiteren Werdegang der Klägerin widerspiegeln. Dass sie nach ihrem Schulabschluss im Januar 2021 eine Berufsausbildung aufgenommen und sich – wie die Zeugin Z1 bestätigte – aufgrund eigener Zukunftspläne zunehmend von ihren Eltern emanzipiert hat, belegt jedenfalls die fortgeschrittene Integration der Klägerin in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland und damit den Erfolg ihrer schon vor Vollendung des 21. Lebensjahres unternommenen Integrationsbemühungen.

24 Die genannten Integrationsleistungen der Klägerin begründen eine (teilweise) Ausnahme vom Regelerfordernis eines vierjährigen Schulbesuchs. Entgegen der Auffassung bzw. den Anwendungshinweisen der Beklagten sind insoweit nicht nur besonders hervorstechende schulische Leistungen zu berücksichtigen; eine derartige einschränkende Auslegung lässt sich weder auf den Wortlaut noch auf den Normzweck des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG stützen. [...] Im Fall eines bislang erfolgreichen, jedoch noch nicht vier Jahre andauernden Schulbesuchs entspricht es dagegen sogar dem Ziel einer (auch) bildungsbezogenen Integration, etwaige außerhalb des schulischen Umfelds erbrachte Integrationsleistungen als ausnahmerelevanten Umstand anzuerkennen. Denn es ist davon auszugehen, dass die durch ein soziales, politisches oder sonst gemeinnütziges Engagement erworbenen Kenntnisse der Sprache und Gesellschaftsordnung eine weitere Eingliederung in die deutschen Lebensverhältnisse nicht zuletzt insofern begünstigen, als sie sich in aller Regel positiv auf die schulischen Leistungen des Betroffenen auswirken. Inwieweit außerschulische Integrationsleistungen den erforderlichen Schulbesuch in zeitlicher Hinsicht "ersetzen" können, ist dabei einzelfallbezogen unter Beachtung des in § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG angelegten Regel-Ausnahme-Verhältnisses zu beurteilen. Dieses ist jedenfalls dann nicht mehr gewahrt, wenn der Schulbesuch bei einer Gesamtbetrachtung deutlich hinter die außerhalb des schulischen Umfelds erbrachten Integrationsleistungen zurücktritt. So verhält es sich hier indes nicht, da die Klägerin bei Vollendung ihres 21. Lebensjahres für knapp dreieinhalb Jahre die Schule besucht und im Rahmen dessen erhebliche Integrationsfortschritte erzielt hatte, namentlich beim Erlernen der deutschen Sprache und in dem Unterrichtsfach "Werte und Leben in Deutschland" (siehe hierzu die Schulzeugnisse mit den entsprechenden Anlagen). [...]