EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-422/21 Italien gg. TO - asyl.net: M30887
https://www.asyl.net/rsdb/m30887
Leitsatz:

Zu Leistungskürzungen bei Schutzsuchenden wegen grob gewalttätigen Verhaltens außerhalb der Unterbringungseinrichtung:

1. Art. 20 Abs. 4 Aufnahme-RL, wonach Sozialleistungen wegen grober Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätigen Verhaltens gekürzt werden können, ist auch bei grob gewalttätigem Verhalten außerhalb einer Unterbringungseinrichtung anwendbar.

2. Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 Aufnahme-RL dürfen den betroffenen Personen nicht die Möglichkeit nehmen, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Ferner sind die Regelungen des Art. 20 Abs. 5 Aufnahme-RL zu beachten, d.h. insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aufnahmeeinrichtung, Sanktion, Unionsrecht, Sozialleistungen, Leistungskürzung,
Normen: RL 2013/33/EU Art. 20 Abs. 4, RL 2013/33/EU Art. 20 Abs. 5, RL 2013/33/EU Art. 2,
Auszüge:

[...]

24 Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33 einer nationalen Regelung entgegen, die den Widerruf der Aufnahmemaßnahmen gegenüber dem volljährigen und nicht in die Kategorie der "schutzbedürftigen Personen" fallenden Antragsteller vorsieht, wenn er außerhalb des Unterbringungszentrums ein besonders gewalttätiges Verhalten an den Tag gelegt hat, das sich im Gebrauch von körperlicher Gewalt gegen Amtsträger und/oder mit öffentlichen Dienstleistungen betraute Personen manifestiert hat und bei den Opfern derartige Verletzungen verursacht hat, dass sie eine Behandlung durch den örtlichen ärztlichen Notdienst in Anspruch nehmen mussten? [...]

26 Mit dem ersten Teil seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass er auf ein grob gewalttätiges Verhalten außerhalb eines Unterbringungszentrums anwendbar ist. [...]

29 Aus dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 geht hervor, dass "grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren" und "grob gewalttätiges Verhalten" zwei getrennte Fallgestaltungen darstellen, wobei eine von ihnen ausreicht, um die Verhängung einer Sanktion zu rechtfertigen.

30 In Ermangelung einer ausdrücklichen gegenteiligen Begrenzung im Wortlaut dieser Bestimmung und unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, die Unionsvorschriften so auszulegen, dass ihre praktische Wirksamkeit gewahrt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2019, Falck Rettungsdienste und Falck, C-465/17, EU:C:2019:234, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist davon auszugehen, dass der Begriff "grob gewalttätiges Verhalten" jedes derartige Verhalten unabhängig davon erfasst, wo es an den Tag gelegt wurde.

31 Wenn es die Absicht des Gesetzgebers gewesen wäre, in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 nur grob gewalttätiges Verhalten eines Antragstellers auf internationalen Schutz in einem Unterbringungszentrum zu erfassen, wäre nämlich ein spezieller Verweis auf die Hypothese eines solchen Verhaltens nicht erforderlich gewesen, da ein solches Verhalten innerhalb eines Unterbringungszentrums mit Sicherheit einen groben Verstoß gegen die Vorschriften des Unterbringungszentrums darstellen würde und daher von der ersten in dieser Bestimmung genannten Fallgestaltung erfasst wäre, weshalb die zweite überflüssig wäre. [...]

36 Mit dem zweiten Teil seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Sanktion, die im Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie besteht, gegen einen Antragsteller auf internationalen Schutz, der sich gegenüber öffentlichen Bediensteten grob gewalttätig verhalten hat, entgegensteht. [...]

39 Gleichwohl hat der Gerichtshof entschieden, dass die Verhängung einer Sanktion, mit der allein aus einem in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Grund sämtliche im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder die in diesem Rahmen gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung entzogen werden, und sei es nur zeitweilig, mit der Verpflichtung gemäß Art. 20 Abs. 5 Satz 3 dieser Richtlinie, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar wäre, weil sie ihm die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen (Urteil vom 12. November 2019, Haqbin, C-233/18, EU:C:2019:956, Rn. 47).

40 Eine solche Sanktion würde zudem das in Art. 20 Abs. 5 Satz 2 der Richtlinie 2013/33 genannte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit verkennen, da selbst die härtesten Sanktionen zur strafrechtlichen Ahndung der von Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie erfassten Verstöße oder Verhaltensweisen dem Antragsteller nicht die Möglichkeit nehmen können, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (Urteil vom 12. November 2019, Haqbin, C-233/18, EU:C:2019:956, Rn. 48). [...]