VG Mainz

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Zitieren als:
VG Mainz, Urteil vom 12.08.2022 - 4 K 569/21.MZ - asyl.net: M30883
https://www.asyl.net/rsdb/m30883
Leitsatz:

Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für Elternteil:

Mangels Darlegung tatsächlich erbrachter Unterhalts- und Pflegeleistungen durch ein freizügigkeitsberechtigtes Kind für einen mutmaßlich pflegebedürftigen Elternteil kann der Verlust des Rechts auf Freizügigkeit gemäß § 5 Abs. 4 FreizüG/EU wegen unangemessener Inanspruchnahme von Sozialleistungen festgestellt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, familiäre Beistandsgemeinschaft, Krankheit, Sicherung des Lebensunterhalts, Sozialhilfebezug, Eltern, pflegebedürftig, Lebensunterhalt, Pflege
Normen: FreizügG/EU § 5 Abs. 4, RL 2004/38/EG Art. 14 Abs. 3, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 6, FreizügG/EU § 3 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt.

Er ist am ... geboren und polnischer Staatsangehöriger. Im Oktober 2019 reiste er in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seitdem lebt er bei seiner Tochter Frau .... Nach eigenen Angaben pflegt ihn diese aufgrund einer ...-Erkrankung. [...]

Nach erfolgter Anhörung stellte der Beklagte mit Bescheid vom 22. Januar 2021, dem Kläger am 23. Januar 2021 zugestellt, den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern - Freizügigkeitsgesetz/EU, FreizügG/EU - fest. [...]

I. Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU ist rechtlich nicht zu beanstanden.

Danach kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn dessen Voraussetzungen innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder diese nicht vorliegen.

Dies ist hier der Fall. Der Kläger ist als polnischer Staatsangehöriger zwar Unionsbürger und damit der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes eröffnet. Die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU sind hier jedoch nicht gegeben.

1. Der Kläger vermag eine Freizügigkeitsberechtigung nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU als nicht erwerbstätiger Unionsbürger abzuleiten. § 4 Satz 1 FreizügG/EU setzt voraus, dass der nicht erwerbstätige Unionsbürger über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügt. Vorliegend wurde seitens des Klägers bereits nicht dargetan, dass er über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz verfügt. Jedenfalls fehlt es aber darüber hinaus an ausreichenden Existenzmitteln. [...]

2. Der Kläger kann eine Freizügigkeitsberechtigung ferner nicht aus § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m §§ 3 und 4 FreizügG/EU als Familienangehöriger herleiten. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Der Kläger ist jedoch nicht als Familienangehöriger in diesem Sinne anzusehen. Gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d) FreizügG/EU sind Familienangehörige einer Person unter anderem die Verwandten in gerader aufsteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Eine solche Unterhaltsgewährung liegt vor, wenn dem Verwandten tatsächlich Leistungen zukommen, die vom Ansatz her als Mittel der Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können. Dazu gehört eine fortgesetzte regelmäßige Unterstützung in einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken [...].

Vorliegend ist zwar davon auszugehen, dass der Kläger der Vater der Frau ... und damit Verwandter in gerade aufsteigender Linie einer freizügigkeitsberechtigten Person ist. Allerdings fehlt es an der Gewährung von Unterhalt im oben genannten Sinne durch diese. In Ermangelung jedweden näher substantiierten Vortragens ist nicht ersichtlich, dass die Tochter des Klägers diesem eine fortgesetzte regelmäßige Unterstützung gewährt. Zwar lebt der Kläger bei seiner Tochter und wird – ausweislich seines nicht näher belegten Vortrages – auch von dieser gepflegt. Dies deckt jedoch keinen relevanten Teil des Lebensunterhalts des Klägers. [...] Tatsächlich erbrachte Unterhaltsleistungen durch seine Tochter oder sonstige Angehörige sind nicht näher dargelegt worden. Zwar ergibt sich aus dem - jedoch erst auf gerichtliche Nachfrage vorgelegten - ärztlichen Bericht der ... vom ..., dass bei dem Kläger wohl eine ...-Erkrankung vorliegen dürfte. Belege hinsichtlich der darin zur diagnostischen Konsolidierung als erforderlich angesehenen weiteren Abklärung durch apparative Ausschlussdiagnostik durch zerebrale Bildgebung und erweiterte laborchemische Diagnostik wurden indes nicht vorgelegt. Inwieweit derzeit eine Pflegebedürftigkeit des Klägers besteht, wurde ebenfalls nicht näher vorgetragen. Es fehlt zudem an einer substantiierten Darlegung, inwieweit seine Tochter tatsächliche Pflegeleistungen erbringt. [...]

4. Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU gegeben, liegt es im Ermessen des Beklagten, ob der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt wird. [...]

Für den Fall des Sozialhilfebezugs stellt Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeits-Richtlinie) ausdrücklich klar, dass die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat nicht automatisch zu einer Ausweisung führen darf. Erforderlich ist vielmehr eine "unangemessene" Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen (vgl. OVG RP, Beschluss vom 20. September 2016 - 7 B 10406/16 -, juris Rn. 44 f.; BayVGH, Beschluss vom 4. Februar 2020 - 10 ZB 19.155 -, juris Rn. 11, jeweils m.w.N.). [...]

Ausgehend hiervon hat der Beklagte sein Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Jedenfalls im Widerspruchsbescheid hat der Beklagte auch die Bindung des Klägers zu seiner im Bundesgebiet lebenden Tochter gewürdigt. In letztlich nicht zu beanstandender Weise hat der Beklagte der Sicherung der Funktionsfähigkeit des sozialen Systems den Vorzug vor den Bindungen des Klägers im Bundesgebiet gegeben. Dies ist auch nicht unverhältnismäßig. [...] Eine hinreichende kulturelle, soziale und wirtschaftliche Integration des Klägers in die Bundesrepublik Deutschland ist nicht ersichtlich. Hier bezieht sich der Kläger allein auf die familiäre Bindung zu seiner erwachsenen Tochter. Bindungen zu weiteren Familienangehörigen im Bundesgebiet wurden nicht geltend gemacht. Eine Entwurzelung von seinem Heimatstaat, in dem er vor seiner Einreise nach Deutschland immerhin 71 Jahre gelebt hat, ist als fernliegend anzusehen. [...]

Unter Berücksichtigung der kurzen Dauer des Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet, der persönlichen Umstände, insbesondere der fehlenden Möglichkeit der Inanspruchnahme anderweitiger Leistungen, beispielsweise durch Unterhaltsleistungen von Familienangehörigen oder eine Erwerbstätigkeit des Klägers, des Alters des Klägers sowie des gewährten Sozialhilfebetrages erweist sich der Bezug von Sozialleistungen als unangemessen im obengenannten Sinne. [...]