VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 10.08.2022 - 3 K 2417/17.A - asyl.net: M30881
https://www.asyl.net/rsdb/m30881
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für Familie mit Kleinkindern, nicht aber für alleinstehenden Mann aus dem Tschad:

1. Die humanitäre Lage im Tschad ist für eine dreiköpfige Familie mit zwei Kleinkindern, die im Tschad über kein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt, derart schlecht, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.

2. Ein junger, gesunder, alleinstehender Mann, der in Deutschland einen Schulabschluss erworben hat und mit den Verhältnissen im Tschad vertraut ist, wird in der Lage sein, durch Erwerbstätigkeit ein wirtschaftliches Existenzminimum zu erwirtschaften.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Tschad, Abschiebungsverbot, offensichtlich unbegründet, Kindeswohl, Familienangehörige, Kinder, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Arbeitslosigkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, RL 2013/32/EU Art. 32 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 8, AsylG § 30 Abs. 1, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Die mittlerweile volljährigen Kläger sind Geschwister und nach eigenen Angaben tschadische Staatsangehörige muslimischen Glaubens. Sie reisten als Minderjährige am 17. Oktober 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein. [...]

Mit Bescheid vom 13. April 2017 lehnte das Bundesamt die Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und von subsidiärem Schutz als offensichtlich unbegründet ab (Ziffern 1 bis 3) und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Ziffer 4). [...]

Die isolierte Anfechtungsklage ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 und 2 AsylG sind vorliegend nicht erfüllt. [...]

So liegt der Fall hier jedenfalls mit Blick auf die Angaben der Kläger im gerichtlichen Klageverfahren nicht. [...] Der Vortrag der Kläger ist nicht – wie es das Gesetz in richtlinienkonformer Auslegung (vgl. Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes) gebietet – etwa ohne Belang und von vornherein ungeeignet, im Fall der Kläger die Zuerkennung internationalen Schutzes zu tragen. [...]

c) Die Klägerin zu 2) hat indes einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG. [...]

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Gericht davon überzeugt, dass der Klägerin zu 2) in ihrem besonderen Einzelfall bei Rückkehr in den Tschad mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine extreme Gefahrenlage droht, die zu einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt.

Die Republik Tschad zählt zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Tschad belegt Platz 187 von 189 im Human Development Index 2020 und ist laut Climate Change Vulnerability Index 2016 das am stärksten durch den Klimawandel gefährdete Land. Das Land ist mit wiederkehrenden extremen Wetterbedingungen wie Dürren und Überschwemmungen konfrontiert, während es an institutionellen und kommunalen Kapazitäten fehlt, um sich anzupassen und die Folgen abzumildern (OCHA, Country Profile, September 2019). Die [...]

Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 2) mit ihren vier und zwei Jahre alten Kleinkindern im Familienverband in den Tschad zurückkehren würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 – juris). Die humanitäre Lage im Tschad ist für eine dreiköpfige Familie mit zwei Kleinkindern, die im Tschad über kein familiäres oder soziales Netzwerk verfügen, derzeit derart schlecht, dass von einer Abschiebung zwingend abzusehen ist. [...]

Trotz der geschilderten wirtschaftlich schwierigen Lage und insbesondere des derzeitigen Ernährungsnotstands in der Republik Tschad steht nicht zu erwarten, dass der 20-jährige Kläger zu 1) dort nicht in der Lage wäre, seine Existenz zu sichern. [...] Mangels entgegenstehender Angaben ist mithin zugrunde zu legen, dass es sich bei ihm um einen alleinstehenden Mann ohne Unterhaltspflichten handelt, sodass er ausschließlich seinen eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften hat. Er spricht eine der Landessprachen und ist mit den kulturellen und sozialen Verhältnissen im Tschad vertraut. Die Prozessbevollmächtigte gab in der mündlichen Verhandlung an, er habe jüngst die 10. Klasse mit einem Schulabschluss beendet, so dass er über einen für tschadische Verhältnisse überdurchschnittlichen Bildungsgrad verfügt. [...] Zudem bewies der Kläger zu 1) eine besondere Gewandtheit, indem er als Minderjähriger allein mit seiner Schwester vom Tschad nach Europa reiste. Es ist nach alledem anzunehmen, dass er mithilfe der im Tschad bestehenden ethnischen Strukturen, bei Rückkehr alsbald ein Netzwerk wird aufbauen und über Kontakte eine Arbeitsstelle wird finden können. Auch kann er auf finanzielle Unterstützung seiner in Deutschland lebenden Verwandten hoffen. [...]