OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.07.2022 - 1 A 3323/20.A - asyl.net: M30862
https://www.asyl.net/rsdb/m30862
Leitsatz:

Keine Zulassung der Berufung wegen Verletzung rechtlichen Gehörs hinsichtlich der Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen:

1. Die Anforderungen an die Substantiierung eines Beweisantrags hinsichtlich einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sind auf andere psychische Erkrankungen (hier u.A.: depressive Störung) entsprechend anzuwenden, wenn die Unschärfen des jeweiligen Krankheitsbildes und seine vielfältigen Symptome es in vergleichbarer Weise wie bei der PTBS rechtfertigen, gewisse Mindestanforderungen an die vorzulegenden Atteste zu stellen.

2. Die Entscheidung über die Zurückweisung eines verspäteten Beweisantrags nach § 87b Abs. 3 VwGO bedarf - anders als die Ablehnung eines unbedingten Beweisantrags nach § 86 Abs. 2 VwGO - keines gesonderten Beschlusses.

3. Wird die Einholung eines umfassenden schriftlichen Gutachtens beantragt, können sich Kläger*innen nicht erfolgreich auf § 87b Abs. 3 S. 2 VwGO berufen, wonach ein Beweisantrag dann nicht zurückzuweisen ist, wenn es mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt zu ermitteln.

(Leitsätze der Redaktion; entgegen: VGH Bayern, Beschluss vom 16.10.2017 - 13a ZB 17.31153 (Asylmagazin 1-2/2018, S. 40) - asyl.net: M25605; siehe auch: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.07.2020 - 12 N 144.19 (Asylmagazin 10-11/2020, S. 381 f.) - asyl.net: M28869)

Schlagwörter: Asylverfahrensrecht, Verwaltungsgericht, verspätetes Vorbringen, Beweisantrag, rechtliches Gehör, Substantiierung, Präklusion, verspätetes Vorbringen, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, Attest, Sachverständigengutachten, Angola,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60a Abs. 2c, AufenthG § 60a Abs. 2d, VwGO, § 87b Abs. 3 S. 1, VwGO, § 87b Abs. 2
Auszüge:

[...]

Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Beteiligten ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können und mit ihren Ausführungen und Anträgen durch das Gericht gehört werden. Das Gericht ist jedoch nicht verpflichtet, den Ausführungen eines Beteiligten in der Sache zu folgen. Die Gehörsrüge ist daher nicht geeignet, eine – vermeintlich – fehlerhafte Feststellung oder Bewertung des Sachverhalts einschließlich seiner rechtlichen Würdigung zu beanstanden.[...]

a) Erfolglos bleibt zunächst die Rüge der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe den anzulegenden Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit verkannt. Damit rügt die Klägerin schon nicht das Übergehen ihres Vortrages, sondern dessen rechtliche Würdigung durch das Verwaltungsgericht. [...]

b) Der Einwand, das Verwaltungsgericht habe sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob es für die Klägerin möglich wäre, die notwendige therapeutische und medikamentöse Behandlung zu erhalten, führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung. [...]

bb) Auch soweit die Klägerin geltend macht, das Verwaltungsgericht habe ihr Vorbringen im Hinblick auf ihre psychischen Erkrankungen (Zugang zu der notwendigen therapeutischen und medikamentösen Behandlung) außer Acht gelassen, ist die Berufung nicht zuzulassen.

Eine Zulassung der Berufung kommt nicht in Betracht, wenn ein Verfahrensmangel – nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts – für den Ausgang des Berufungsverfahrens ohne Bedeutung wäre, wenn sich also das Urteil des Verwaltungsgerichts aus anderen Gründen als richtig erweist. [...]

Dies zugrunde gelegt wäre der von der Klägerin vorgebrachte Verfahrensmangel, der lediglich einen abgrenzbaren Teil des Streitstoffs erfasst, unerheblich, weil sich das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts insoweit aus anderen auf der Hand liegenden Gründen als richtig erweist. Es fehlt nämlich schon an einer Substantiierung der behaupteten psychischen Erkrankungen, auf deren Grundlage die Klägerin vorgebracht hat, medikamentöser und therapeutischer Behandlung zu bedürfen. [...]

Die vorstehenden Grundsätze, die das Vorliegen einer PTBS zum Gegenstand haben, sind bei anderen psychischen Erkrankungen entsprechend anzuwenden, wenn die Unschärfen des jeweiligen Krankheitsbildes und seine vielfältigen Symptome es in vergleichbarer Weise wie bei der PTBS rechtfertigen, gewisse Mindestanforderungen an die vorzulegenden Atteste zu stellen (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 11. August 2021 – 1 A 73/20.A –, juris, Rn. 23, und vom 21. März 2017 – 19 A 2461/14.A –, juris, Rn. 17).

Dies ist bei den ausweislich der von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Unterlagen neben einer PTBS in Betracht kommenden Erkrankungen der depressiven Entwicklung, der Angst und depressiven Störung sowie der mittelgradigen depressiven Episode (mit reaktiven Anteilen) der Fall. Diese lassen sich als Grunderkrankungen ebenso wie eine PTBS nicht allein an visuell erkennbaren äußeren Symptomen diagnostizieren, sondern bedürfen einer fundierten Exploration mittels Befragung der Betroffenen. [...]

2. Die Klägerin hat eine Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör auch nicht mit der Rüge dargelegt, die von ihr in der mündlichen Verhandlung gestellten unbedingten Beweisanträge seien zu Unrecht abgelehnt (bzw. zurückgewiesen worden. [...]

Die Beweisanträge [...] hat das Verwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung (Sitzungsprotokoll, S. 6) nach § 87 b Abs. 3 Satz 1 VwGO zurückgewiesen, weil die Beweiserhebung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde. [...]

a) Erfolglos bleibt zunächst die Rüge der Klägerin, das Verwaltungsgericht habe die Zurückweisung der Beweisanträge in der mündlichen Verhandlung nicht ausreichend begründet und könne dies nicht in den Urteilsgründen nachholen.

Die Entscheidung über die Zurückweisung nach § 87b Abs. 3 VwGO bedarf - anders als die Ablehnung eines unbedingten Beweisantrags nach § 86 Abs. 2 VwGO - keines gesonderten Beschlusses. [...]

b) Das Verwaltungsgericht hat – anders als die Klägerin meint – auch nicht verkannt, dass die Voraussetzungen des § 87b Abs. 3 Satz 1 VwGO kumulativ vorliegen müssen. Das Verwaltungsgericht hat in seinen Entscheidungsgründen ausdrücklich angenommen, dass sie insgesamt gegeben sind (UA, S. 10, 3. Abs.). Sämtliche gesetzliche Voraussetzungen für eine Präklusion sind auch ohne weiteres erkennbar oder durch das Verwaltungsgericht nachvollziehbar dargelegt. Das Verwaltungsgericht geht erkennbar davon aus, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 87b Abs. 2 Nr. 1 Fall 2 VwGO vorliegen, auch wenn es in den Urteilsgründen irrtümlich zunächst von einer Fristsetzung nach § 87b Abs. 1 VwGO spricht. Das Verwaltungsgericht hat der Klägerin aber mit der Ladungsverfügung vom 13. August 2020 offensichtlich eine Frist nach § 87b Abs. 2 VwGO gesetzt, dessen Wortlaut es wiedergegeben hat. Das Verwaltungsgericht stellt auch im Folgenden in seinen Urteilsgründen darauf ab, dass - was § 87b Abs. 2 Nr. 1 Fall 2 VwGO entspricht - die Klägerin erst in der mündlichen Verhandlung ein Beweismittel bezeichnet habe. [...]

c) Die Klägerin kann sich auch nicht darauf berufen, das Verwaltungsgericht, hätte von Amts wegen ein Sachverständigengutachten einholen müssen, sodass es einer Benennung dieses Beweismittels durch sie nicht bedurft hätte.

Eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens kommt gemäß § 87b Abs. 3 Satz 3 VwGO dann nicht in Betracht, wenn es dem Gericht mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung des Beteiligten zu ermitteln. In diesen vertypten Fällen tritt die Mitwirkungsobliegenheit der Beteiligten zugunsten des Untersuchungsgrundsatzes - auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit - in den Hintergrund. [...]

Diese Voraussetzungen liegen - wovon auch das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen ist (UA, S. 10, 3. Abs.) - mit Blick darauf, dass die Klägerin die Einholung eines umfassenden schriftlichen Sachverständigengutachtens beantragt hat, nicht vor. [...]

d) Aus dem Zulassungsvorbringen der Klägerin ergibt sich auch nicht, dass die in den Entscheidungsgründen getroffenen Ermessenserwägungen des Verwaltungsgerichts in ihrem Einzelfall nicht ausreichend wären.

Das Verwaltungsgericht hat - wie soeben unter 2. b) ausgeführt - dargelegt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Zurückweisung vorliegen. Im Rahmen seiner Ermessensentscheidung hat es das Interesse an einem ökonomischen Verfahrensablauf mit dem Interesse der Klägerin, das verspätete Beweismittel zuzulassen, abgewogen. [...]