VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Gerichtsbescheid vom 12.05.2022 - 1 K 1384/20 Me - asyl.net: M30857
https://www.asyl.net/rsdb/m30857
Leitsatz:

Keine Rücknahme subsidiären Schutzes bei relativ geringfügigen Straftaten und fehlender Wiederholungsgefahr:

1. Gemäß § 73b AsylG ist der subsidiäre Schutzstatus unter anderem dann zurückzunehmen, wenn die betroffene Person gemäß § 4 Abs. 2 AsylG von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen ist.

2. Eine Person ist gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2 AsylG von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn sie eine schwere Straftat begangen hat. Diese Regelung setzt Art. 17 Abs. 1 Bst. b Qualifikationsrichtlinie [RL 2011/95/EU] in deutsches Recht um. Was eine schwere Straftat in diesem Sinne ist, ist anhand internationaler Maßstäbe zu beurteilen, d.h. es muss sich um eine Straftat handeln, die in den meisten Rechtsordnungen als besonders schwerwiegend qualifiziert ist und entsprechend strafrechtlich verfolgt wird. Die Schwere der Tat ist nicht abstrakt zu bestimmen, sondern im Hinblick auf die besonderen Umstände des Einzelfalls, wie Häufigkeit und Intensität der Begehung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass hiermit ein Fall der Unwürdigkeit geregelt wird, unabhängig davon, wie lange die Tat zurückliegt oder ob Wiederholungsgefahr droht. Angesichts dessen und des Ausnahmecharakters der Ausschlussgründe ist ein erhebliches Gewicht der Straftaten erforderlich. Eine Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung, indem eine brennende Zigarette an die Hand des Opfers gehalten wurde, ist hierfür nicht ausreichend.

3. Eine Person ist gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 4 AsylG auch von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn sie eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt. Diese Regelung setzt Art. 17 Abs. 1 Bst. d Qualifikationsrichtlinie [RL 2011/95/EU] in deutsches Recht um. Eine Gefahr für die Allgemeinheit liegt vor, wenn aufgrund erheblicher Straftaten nicht nur die Rechtsgüter einzelner bedroht sind, sondern das gesellschaftliche Zusammenleben in Sicherheit und Freiheit. Im Übrigen muss die gegenwärtige, konkrete Gefahr eines Schadenseintritts bestehen. Weder die vergangenen Verurteilungen wegen Diebstahls und Hausfriedensbruchs, noch die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung begründen in diesem Fall eine solche konkrete Gefahr.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.01.2022 - A 4 S 108/22 - Asylmagazin 6/2022, S. 224 f. - asyl.net: M30415; VG Freiburg, Urteil vom 23.06.2022 - A 7 K 2897/21 - asyl.net: M30916)

Schlagwörter: Straftat, internationaler Schutz, subsidiärer Schutz, Rücknahme, Gefahr für die Allgemeinheit, schwere Straftat, konkrete Gefahr, Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung, Diebstahl, Hausfriedensbruch,
Normen: AsylG § 73b, AsylG § 4 Abs. 2 Nr. 2, AsylG § 4 Abs. 2 Nr. 4, RL 2011/95/EU Art. 17 Abs. 1 Bst. b, RL 2011/95/EU Art. 17 Abs. 1 Bst. d
Auszüge:

[...]

Die auf § 73b AsylG i.V.m. § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AsylG gestützte Widerrufsentscheidung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). [...]

Die Voraussetzungen für die Rücknahme subsidiären Schutzes liegen nicht vor. Nach § 73b Abs. 3 AsylG ist die Zuerkennung des subsidiären Schutzes unter anderem zurückzunehmen, wenn der Ausländer nach § 4 Abs. 2 Asy!G von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen ist. Das gilt auch, wenn der Ausschlussgrund nachträglich eintritt.

Hier liegt jedoch kein Ausschlussgrund gemäß § 4 Abs. 2 AsylG vor. Das gilt sowohl für den Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG (1.) als auch für den Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AsylG (2.). Die übrigen beiden Ausschlussgründe des § 4 Abs. 2 AsylG kommen offensichtlich nicht in Betracht.

1. Nach § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine schwere Straftat begangen hat. Eine solche schwere Straftat liegt hier nicht vor.

Mit § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG wurde Art. 17 Abs. 1 Buchst. b Richtlinie 2011/95/EU [...] umgesetzt. Dies ist bei der Auslegung des § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG zu berücksichtigen. Eine Definition der "schweren Straftat" enthält die Richtlinie 2011/95/EG nicht. [...]

Insofern kann auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U. v. 16.02.2010 - 10 C 7.09 -, juris) verwiesen werden, wonach es sich nach internationalen und nicht nach nationalen Maßstäben bestimmt, ob einer Straftat das geforderte Gewicht zukommt. Es muss sich um ein Kapitalverbrechen oder eine sonstige Straftat handeln, die in den meisten Rechtsordnungen als besonders schwerwiegend qualifiziert ist und entsprechend strafrechtlich verfolgt wird (BVerwG, a.a.O.). Die Schwere der Tat ist dabei nicht allein abstrakt zu bestimmen, sondern im Hinblick auf die besonderen Umstände des Einzelfalls, wie Häufigkeit und Intensität der Verfehlungen [...].

Bei der im jeweiligen Einzelfall vorzunehmenden Gewichtung der Tat ist somit zu berücksichtigen, dass § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG einen Fall der Unwürdigkeit regelt, bei dem es weder darauf ankommt, wie lange die Tat zurückliegt, noch ob von dem betreffenden Ausländer aktuell Gefahren ausgehen [...].

Im Hinblick auf diese sehr gravierenden Verhaltensweisen ist daher angesichts des vom Europäischen Gerichtshof betonten Ausnahmecharakters der Ausschlussgründe ein erhebliches Gewicht sowohl der Straftaten als auch der schwerwiegenden Gründe für die Annahme, dass diese begangen worden sind, zu fordern (VG Freiburg, Urteil vom 21.10.2020 - 7 K 2047/20 -, juris, Rdnr. 33).

Im vorliegenden Fall wurde der Kläger rechtskräftig verurteilt, so dass zweifellos "schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen", dass er die oben im Tatbestand näher umschriebenen Straftaten begangen hat.

Es fehlt jedoch an einer "schweren Straftat" im Sinne des § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG. Die gewichtigste Straftat, wegen derer der Kläger verurteilt worden ist, ist die von ihm begangene gefährliche Körperverletzung vom … 2018, als er dem Geschädigten, ..., eine brennende Zigarette an die Hand hielt. Diese Tat wurde mit Urteil des Amtsgerichts vom 08.10.2019 als gefährliche Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB (Begehung der Körperverletzung mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs) geahndet. Der Strafrahmen reicht in diesem Falle von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Eine Einzelstrafe wurde insoweit nicht verhängt, da der Kläger zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde, in die mehrere weitere Straftaten einbezogen wurden.

Das Gericht verkennt nicht, dass gefährliche Körperverletzungen teilweise als "schwere Straftat" angesehen wurden (VG Augsburg, U. v. 26.03.2020 - Au 4 K 19.31338 -, juris; VG Saarland, U. v. 09.07.2019 - 6 K 941/18 -, juris; VG Trier, U. v. 16.01.2020 - 10 K 1424/19.TR -, juris), dabei wurde jedoch jeweils nicht ausschließlich auf den Strafrahmen, sondern auf die jeweiligen Modalitäten und/oder Folgen der Taten abgestellt.

Die Modalitäten der am … 2018 begangenen Tat lassen diese als zwar kriminell und strafwürdig, jedoch nicht als so schwer erscheinen, dass der Kläger - zeitlich unbeschränkt und ohne Rücksicht auf das Bestehen einer Wiederholungsgefahr - als unwürdig anzusehen ist, den subsidiären Schutzstatus zuerkannt zu bekommen. Zwar hat das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, das durch diese Tat verletzt wurde - wie die Beklagte zutreffend ausführt - einen hohen Rang. Es ist jedoch zu beachten, dass mangels entgegenstehender Anhaltspunkte nicht zulasten des Klägers davon ausgegangen werden kann, dass der Geschädigte schwere oder gar bleibende Verletzungen erlitten hatte. [...]

Auch die übrigen Taten, wegen derer der Kläger verurteilt wurde, sind nicht als "schwere Straftaten" im Sinne des § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG anzusehen. Der am … 2019 begangene Diebstahl bezog sich auf Waren im Wert von insgesamt lediglich 18,96 EUR. Der vom Kläger begangene Hausfriedensbruch in 13 Fällen beruht auf einem ihm in einem Lebensmittelmarkt erteilten Hausverbot und zeigt zwar, dass sich der Kläger äußerst uneinsichtig und renitent verhielt, stellt jedoch ebenfalls keine schwere Straftat dar. Insgesamt stellt sich der Kläger damit zur Zeit seiner letzten strafrechtlichen Verurteilung als Kleinkrimineller dar; es kann indes nicht festgestellt werden, dass er "eine schwere Straftat" begangen hat.

2. Der Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AsylG liegt ebenfalls nicht vor. Gemäß § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AsylG ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellt. Mit dieser Bestimmung wurde der Ausschlussgrund des Art. 17 Abs. 1 Buchst. d Richtlinie 2011/95/EU umgesetzt. [...]

Von einer Gefahr für die Allgemeinheit ist bei einer Rechtsgutgefährdung auszugehen, die nicht nur eine Einzelperson betrifft und für das gesellschaftliche Zusammenleben in Sicherheit und Freiheit eine Gefährdung darstellt (BeckOK AuslR/Kluth, 32. Ed. 01.01.2022, § 4 AsylG, Rdnr. 38). Der Schutz der Allgemeinheit betrifft insbesondere die Verhinderung von erheblichen Straftaten (vgl. VG Freiburg (Breisgau), U. v. 05.02.2021 - A 5 K 7139/18 -, juris, Rdnr. 42 m. w.N.).

Ferner muss - anders als bei § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG (Art. 17 Abs. 1 b Richtlinie 2011/95/EU), der einen Fall der Unwürdigkeit regelt - jedenfalls noch eine gegenwärtige konkrete Gefahr vorliegen (Bergmann a.a.O.; Kluth, a.a.O., Rdnr. 39). Da "schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen" müssen, dass der Betroffene eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, muss die in diesem Zusammenhang erforderliche Prognose einer künftigen Entwicklung zur konkreten Wahrscheinlichkeit eines (weiteren) Schadenseintritts führen […].

Gemessen daran liegt im vorliegenden Fall zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr vor. Ausreichend dafür wäre die konkrete gegenwärtige Gefahr, dass der Kläger künftig wieder Körperverletzungen in der Art wie die zuletzt durch das Amtsgericht abgeurteilte begeht. Eine solche Gefahr besteht jedoch nach Auffassung des Gerichts derzeit nicht mehr. [...]