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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 29.03.2022 - B 4 AS 2/21 R - asyl.net: M30846
https://www.asyl.net/rsdb/m30846
Leitsatz:

Leistungsausschluss nach SGB II für EU-Staatsangehörigen bei monatlicher Arbeitszeit von 10 Stunden:

1. Die Tätigkeit als Spülkraft im Umfang von zehn Stunden pro Monat zu einer monatlichen Bruttovergütung von 100 Euro stellt eine nur unwesentliche und untergeordnete Tätigkeit dar und begründet für EU-Staatsangehörige nicht die Eigenschaft als Arbeitnehmer*in gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, so dass der Ausschluss von Sozialleistungen nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II insofern rechtmäßig ist.

2. Bei der Frage, ob ein Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU bei Arbeitslosigkeit nach einem Jahr Berufstätigkeit fortwirkt, stellen Unterbrechungen der Berufstätigkeit von mehr als sechs Monaten eine so erhebliche Zäsur dar, dass die vor und nach der Unterbrechung liegenden Beschäftigungszeiten nicht addiert werden.

3. Der Ausschluss von Sozialleistungen verletzt nicht das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber darf EU-Staatsangehörige regelmäßig darauf verweisen, die Existenzsicherungsleistungen durch Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Heimatstaat zu realisieren. Der Gesetzgeber hat dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ferner durch das differenzierte Regelungsgefüge der § 7 Abs. 2 S. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 und 3a SGB XII Rechnung getragen. Soweit EU-Staatsangehörigen im Einzelfall eine Ausreise nicht möglich oder unzumutbar sein sollte, können Leistungen nach der Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 S. 6 SGB XII in Betracht kommen.

4. Die Auffassung, ein Leistungsanspruch müsse für EU-Staatsangehörige bestehen, solange das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nicht festgestellt wurde, entspricht nicht der gesetzlichen Konzeption. Diese macht gerade nur das Fehlen eines den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II begründenden Aufenthaltsrechts zur Bedingung des Leistungsausschlusses.

(Leitsätze der Redaktion, unter Bezug auf: BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R [= Asylmagazin 2011, S. 176 ff.] - asyl.net: M18056)

Siehe auch:

Schlagwörter: geringfügige Beschäftigung, EU-Staatsangehörige, SGB II, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Menschenwürde, Sozialstaatsprinzip, Leistungsausschluss, Ausschluss von Sozialleistungen, SGB XII,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1, SGB II § 7 Abs. 2 S. 2, SGB XII § 23 Abs. 3, SGB XII § 23 Abs. 3a, SGB XII § 23 Abs. 3 S. 6
Auszüge:

[...]

4 Am 24.1.2019 schloss der Kläger mit dem Inhaber eines Restaurants einen unbefristeten Arbeitsvertrag über eine Tätigkeit als Spülkraft mit einer Arbeitszeit von zehn Stunden monatlich und einer monatlichen Vergütung in Höhe von 100 Euro ab. Der Kläger übte diese Tätigkeit an zwei Tagen pro Monat jeweils fünf Stunden aus. Der Beklagte lehnte die Bewilligung von Alg II ab, weil der Kläger ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche habe (Bescheid vom 6.2.2019; Widerspruchsbescheid vom 26.2.2019).

5 Am 11.4.2019 beantragte der Kläger die Überprüfung des Bescheids vom 6.2.2019. Diesen Antrag lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 8.5.2019; Widerspruchsbescheid vom 7.6.2019).

6 Das SG hat die erstinstanzlich auf den Zeitraum vom 1.3. bis 31.12.2019 beschränkte Klage abgewiesen (Urteil vom 29.6.2020), das LSG die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 19.11.2020).

7 Mit seiner vom LSG zugelassenen und zuletzt auf den Zeitraum vom 1.3. bis 31.8.2019 beschränkten Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGB II und des § 75 Abs. 2 Alt 2, Abs. 5 SGG. Er sei nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Aufgrund der am 25.1.2019 aufgenommenen Tätigkeit habe er einen Arbeitnehmerstatus gehabt. [...]

14 2. Der Bescheid des Beklagten vom 8.5.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7.6.2019 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Ablehnungsbescheids vom 6.2.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.2.2019, da die Voraussetzungen des § 40 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 1 SGB X nicht vorliegen. [...]

17 b) Der Kläger, der Staatsangehöriger der Hellenischen Republik ist, war nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a und b SGB II (in der hier anzuwendenden vom 29.12.2016 bis 31.12.2020 geltenden Fassung des Gesetzes vom 22.12.2016, BGBl I 3155) von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Hiernach sind "ausgenommen" - erhalten also keine Leistungen nach dem SGB II - Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben oder deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Die Voraussetzungen der Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. A und b SGB II liegen bei dem Kläger vor, denn er hat allenfalls ein Aufenthaltsrecht, das sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Ein anderes Aufenthaltsrecht als ein solches zum Zweck der Arbeitsuche, das den Leistungsausschluss entfallen lässt, liegt nicht vor.

18 aa) Der Kläger verfügte bei Erlass des Widerspruchsbescheids vom 6.2.2019 über kein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU für den streitbefangenen Zeitraum.

19 (1) Der Begriff des Arbeitnehmers in § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist europarechtlich geprägt (BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - juris RdNr 19 m.w.N.). Die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Rechts der Europäischen Union beurteilt sich allein nach objektiven Kriterien, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf Rechte und Pflichten kennzeichnen (EuGH vom 6.11.2003 - C-413/01 - Ninni-Orasche, juris RdNr 24; EuGH vom 21.2.2013 - C-46/12 - juris RdNr 40). Arbeitnehmer in diesem Sinne ist jeder, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. [...]

20 Für die Gesamtbewertung der Ausübung einer Tätigkeit als Beschäftigung und damit die Zuweisung des Arbeitnehmerstatus ist mithin Bezug zu nehmen insbesondere auf die Arbeitszeit, den Inhalt der Tätigkeit, eine Weisungsgebundenheit, den wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung, die Vergütung als Gegenleistung für die Tätigkeit, den Arbeitsvertrag und dessen Regelungen sowie die Beschäftigungsdauer. [...]

21 (2) Ausgehend von diesen Maßstäben ist das LSG im Rahmen der erforderlichen Gesamtbewertung zu Recht davon ausgegangen, dass die am 24.1.2019 aufgenommene Tätigkeit des Klägers im Restaurant sich als nur unwesentliche und untergeordnete Tätigkeit darstellte und damit keinen Arbeitnehmerstatus begründet hat. Die Tätigkeit des Klägers als Spülkraft zu einer monatlichen Bruttovergütung von 100 Euro beschränkte sich auf Arbeitseinsätze von lediglich zehn Stunden im Monat, verteilt auf zwei Tage mit jeweils fünf Stunden. Es liegt damit ein Fall vor, in dem der Betroffene "nur sehr wenige Stunden" (hierzu EuGH vom 26.2.1992 - C-357/89 - Raulin, juris RdNr 14) gearbeitet hat und in dem die Ausgestaltung der Tätigkeit nicht auf eine Eingliederung in den inländischen Arbeitsmarkt schließen lässt. Die weiteren Umstände der Tätigkeit führen im vorliegenden Fall zu keiner anderen Beurteilung. [...]

27 ee) Der Kläger kann sich nicht auf ein fortwirkendes Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU berufen. Danach bleibt das Recht aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, also auf Einreise und Aufenthalt, bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit unberührt.

28 Nach der Rechtsprechung des Senats zu § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU setzt diese Norm keine ununterbrochene Tätigkeit von mehr als einem Jahr voraus, sondern auch durch Arbeitslosigkeit unterbrochene Tätigkeiten können das gesetzliche Erfordernis erfüllen (ausführlich BSG vom 13.7.2017 - B 4 AS 17/16 R - SozR 4-4200 § 7 Nr. 54 RdNr. 22 ff. m.w.N. zum Streitstand; a.A. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU RdNr. 116 f). Der Senat hatte dabei kürzere Unterbrechungen der Tätigkeit im Blick (BSG vom 13.7.2017 - B 4 AS 17/16 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 54 RdNr 29). [...]

Die vorliegende Unterbrechung der Beschäftigungszeit um siebeneinhalb Monate lässt das Aufenthaltsrecht nach dieser Vorschrift nicht fortwirken. Jedenfalls eine Unterbrechung der Beschäftigungszeit von mehr als sechs Monaten stellt eine so erhebliche Zäsur dar, dass sie einer Addition der vor und nach der Unterbrechung liegenden Beschäftigungszeiten entgegensteht. [....]

30 Dies führt im vorliegenden Fall dazu, dass die in der Zeit vom 27.4. bis zum 31.12.2016 ausgeübte Tätigkeit des Klägers nicht zusammen mit den nach dem 15.8.2017 ausgeübten Tätigkeiten betrachtet werden darf, weil dazwischen ein Zeitraum von siebeneinhalb Monaten lag. [...]

35 a) Der Leistungsausschluss verletzt den Kläger insbesondere nicht in seinem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber muss Unionsbürgern ohne ein Aufenthaltsrecht oder lediglich mit einem Aufenthaltsrecht, das sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, jedenfalls dann keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einräumen, wenn ihnen eine Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere eine Rückkehr in ihr Heimatland, möglich und zumutbar ist [...]. Der Umstand, dass auch Ausländer in den persönlichen Gewährleistungsbereich des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums fallen, wenn sie sich im Inland aufhalten (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 - BVerfGE 132, 134 [159, RdNr 63] = SozR 4-3520 § 3 Nr. 2 RdNr. 63), sagt nichts über dessen sachlichen Gewährleistungsbereich aus.

36 Die Verfassung gebietet nicht die Gewährung voraussetzungsloser Sozialleistungen [...]. Der Gesetzgeber gewährt Fürsorgeleistungen zur finanziellen Existenzsicherung entsprechend insbesondere nur dann, wenn es dem Betroffenen nicht möglich ist, seinen eigenen Lebensunterhalt auf andere zumutbare Weise sicherzustellen (vgl. BVerfG vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 - BVerfGE 152, 68 [148, RdNr. 209] - SozR 4-4200 § 31a Nr. 3 RdNr. 209), und knüpft damit - an die Eigenverantwortlichkeit an, die Teil der Art. 1 Abs. 1 GG zugrundeliegenden Vorstellung vom Menschen ist. [...]

38 In entsprechender Weise darf der Gesetzgeber Unionsbürger regelmäßig darauf verweisen, die erforderlichen Existenzsicherungsleistungen durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Heimatstaat als Ausprägung der eigenverantwortlichen Selbsthilfe zu realisieren. [...]

39 Etwas anderes folgt nicht aus dem Urteil des BVerfG zum AsylbLG und insbesondere der dortigen Formulierung, das Existenzminimum müsse in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein (BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134 [172, RdNr. 94] = SozR 4-3520 § 3 Nr. 2; a.A. Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 7 RdNr. 143, Stand Juni 2021). Denn die dortigen Ausführungen betrafen zum einen nur die Frage der höhenmäßigen Bemessung des Bedarfs, nicht aber die davon zu trennende Frage der Zumutbarkeit anderer Bedarfsdeckung und Bedarfsvermeidung. Zum anderen betrafen sie nur den von § 1 Abs. 1 AsylbLG erfassten Personenkreis, bei dem der Gesetzgeber typisierend davon ausgeht, dass diesem eine Rückreise in das Heimatland gegenwärtig nicht möglich oder zumutbar ist. Dies ist bei Unionsbürgern grundsätzlich, vorbehaltlich individueller Umstände im Einzelfall, anders. [...]

41 Die Auffassung, es müsse ein Leistungsanspruch bestehen, solange der Staat das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nicht festgestellt hat (vgl. etwa Oberhäuser/Steffen, ZAR 2017, 149 [151]), entspricht nicht der gesetzlichen Konzeption, die zur Bedingung des Leistungsausschlusses gerade nur das Fehlen eines den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II begründenden Aufenthaltsrechts (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II) macht. [...]

42 Der Gesetzgeber hat dem vom BVerfG konturierten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch das differenzierte Regelungsgefüge des § 7 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a und b SGB II und § 23 Abs. 3 und 3a SGB XII Rechnung getragen: Soweit dem Unionsbürger im Einzelfall eine Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig nicht möglich oder zumutbar ist, können Leistungen nach Maßgabe der Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII in Betracht kommen. [...]