VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 28.04.2022 - 16 K 2743/17.A - asyl.net: M30840
https://www.asyl.net/rsdb/m30840
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Frau aus Tschetschenien wegen drohender Gewalt aufgrund vermeintlichen Ehebruchs:

1. Die drohende Verfolgung durch Familienangehörige wegen vermeintlichen Ehebruchs begründet nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Es handelt sich weder um politische Verfolgung gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG noch um Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

2. Der Klägerin droht ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 AsylG, da belastbare Anhaltspunkte vorliegen, wonach ihre Brüder sie suchen und töten würden. Die Schilderungen decken sich mit den vorliegenden Erkenntnismitteln zur Lage von Frauen im Nordkaukasus.

3. Es ist nicht davon auszugehen, dass im Nordkaukasus agierende staatliche Stellen oder sonstige Akteure gewillt sind, gemäß § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG, § 3d AsylG Schutz vor den zu befürchtenden Übergriffen der Familienangehörigen zu bieten. Frauen, die mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten, genießen keinen effektiven Rechtsschutz.

4. Es besteht keine Möglichkeit internen Schutzes gemäß § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG, § 3e AsylG innerhalb der Russischen Föderation. Frauen, die aus Tschetschenien in andere Regionen Russlands fliehen, können sich nicht in Sicherheit vor einem Ehrenmord wähnen. Sie laufen Gefahr, nach Tschetschenien zurückgebracht und dort bestraft oder getötet zu werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Tschetschenen, Tschetschenien, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, alleinerziehend, alleinstehende Frauen, nichtstaatliche Verfolgung, soziale Gruppe, Ehebruch, interner Schutz, innerstaatliche Fluchtalternative, Schutzbereitschaft,
Normen: AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Die von der Klägerin beschriebene Verfolgung bzw. Verfolgungsfurcht bezieht sich auf kriminelle Bedrohungen durch ihre Familie, insbesondere ihre Brüder, sowie auf gewalttätige Übergriffe ihres zweiten Ehemanns. Eine politische Verfolgung ergibt sich hieraus nicht.

Die Übergriffe drohen ihr auch nicht deshalb, weil sie einer bestimmten sozialen Gruppe zugehört. [...]

Die von der Klägerin dargetane Gruppe der Frauen, denen wegen (vermeintlichen) Ehebruchs von ihrer Familie Ehrenmord drohe, stellt gemessen an den Anforderungen keine soziale Gruppe dar. [...]

Es kann weder festgestellt werden, dass Frauen, die wegen (vermeintlichen) Ehebruchs von einem Ehrenmord bedroht sind, als abgrenzbare Gruppe wahrgenommen werden noch, dass Frauen in Tschetschenien trotz Ungleichbehandlung und Diskriminierung gegenüber Männern als gesellschaftlich andersartig eingestuft werden. [...]

Die Verfolgung der Klägerin knüpft auch nicht allein an ihr Geschlecht an. Ob die Familie nach der behaupteten Ehrverletzung des Ehemanns - hier im Wesentlichen durch die Übernachtung der Klägerin bei einem anderen Mann - eine derartige Entscheidung zur Tötung der Frau überhaupt trifft, hängt von ihrem traditionellen Verständnis und ggf. auch von ihrer Nähe zu Kadyrow ab. [...]

2. Der Klägerin ist indes subsidiärer Schutz zu gewähren. [...]

Das Gericht ist jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass für die Klägerin die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes vorliegen, denn ihr droht eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung durch ihre eigene Familie. Bei einer Rückkehr der Klägerin bestehen belastbare Anhaltspunkte dafür, dass sie von ihren Brüdern gesucht und umgebracht wird. [...]

Diese Schilderung deckt sich mit den vorliegenden Erkenntnissen zur Lage der Frau im Nordkaukasus [...]. Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich danach zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen seien nach wie vor ein Problem. Regional- und Zentralbehörden schenken dem Thema zu wenig Aufmerksamkeit. [...]

Nach der Erkenntnislage ist nicht davon auszugehen, dass die im Nordkaukasus agierenden staatlichen Stellen oder sonstige einschlägige Akteure gewillt sind, den dort zu befürchtenden Übergriffen seitens der Familie der Klägerin als nicht-staatliche Akteure Einhalt zu gebieten. So heißt es im Lagebericht des Auswärtigen Amtes, dass bestimmte Gruppen keinen effektiven Rechtsschutz genießen. Hierzu gehören neben Oppositionellen, Regimekritikern und Menschenrechtlern auch Frauen, welche mit den Wertvorstellungen ihrer Familie in Konflikt geraten sind (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand: Oktober 2020, in der Fassung vom 21. Mai 2021, S. 12). Tschetschenische Behörden würden eine der Normübertretung beschuldigte Frau weder schützen noch ein Strafverfahren einleiten, wenn die Familie Gewalt gegen sie anwende oder diese gar Opfer eines Verbrechens gegen die Ehre werde. Die lokale Polizei zeigt sich oft ablehnend und voreingenommen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., S. 15, 17). Die Untersuchung solcher Fälle ist bei Strafverfolgungsbehörden unerwünscht. Daher ist davon auszugehen, dass die Klägerin in Tschetschenien keine Chance hätte, sich wegen der Bedrohung durch ihren Ehemann oder ihre Familie, an die Behörden zu wenden.

Der Klägerin steht auch kein interner Schutz nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG zu. [...]

Es ist nach den vorliegenden Erkenntnissen davon auszugehen, dass die Klägerin in den außerhalb Tschetscheniens liegenden Teilen der Russischen Föderation keinen internen Schutz finden kann. [...]

Es ist jedoch angesichts des von der Klägerin geschilderten Sachverhalts kaum anzunehmen, dass es der Klägerin als alleinstehende Frau mit zwei Kindern ohne Unterstützung auf Dauer gelänge, ihren Aufenthalt auch in anderen Teilen der Russischen Föderation vor ihrem zweiten Ehemann und ihrer Familie zu verbergen. Nach den Erkenntnissen können sich Frauen, die in andere Regionen Russlands geflüchtet sind, nicht in Sicherheit vor einem Ehrenmord wähnen. Sie laufen Gefahr, nach Tschetschenien zurückgebracht und dort bestraft oder getötet zu werden. Derartige Fälle sind bekannt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, a.a.O., Seite 18 f.). [...] Im Hinblick auf die Drohungen ihrer eigenen Familie ist es beachtlich wahrscheinlich, dass ihre Familie die Klägerin auch in andere Teilen der Russischen Föderation ausfindig macht, zumal ihr Bruder sie bereits zweimal außerhalb Tschetscheniens gesucht habe und einer ihrer Brüder regelmäßig außerhalb Tschetscheniens in Moskau arbeite. [...]