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VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 11.05.2022 - 5 K 3310/22.A - asyl.net: M30831
https://www.asyl.net/rsdb/m30831
Leitsatz:

Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Wiederaufgreifensantrag:

1. Wurde gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens im Hinblick die Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] gestellt und liegt keiner der zwingenden Gründe zur Wiederaufnahme gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG (Wiederaufgreifen im engeren Sinne) vor, besteht gleichwohl ein Anspruch darauf, dass das BAMF ermessensfehlerfrei prüft, ob es gemäß § 51 Abs. 5, § 48 Abs. 1, § 49 Abs. 1 VwVfG den belastenden Verwaltungsakt aufhebt (Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Das BAMF hat insbesondere nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob es die bestandskräftige Entscheidung zum Nichtbestehen von Abschiebungsverboten gemäß § 49 Abs. 1 VwVfG widerruft.

2. Die Ermessensausübung ist hier insofern fehlerhaft, als das BAMF im Hinblick auf § 60 Abs. 5 VwVfG - wonach eine Person nicht abgeschoben werden darf, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist - nur die Frage erörtert hat, ob eine Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK, dem Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, droht. Das BAMF hätte bei dem Vortrag der Konversion zum Christentum angesichts der Verhältnisse im Zielstaat Iran auch erörtern müssen, ob ggf. eine Verletzung der Rechte aus Art. 9 Abs. 1 EMRK droht, wonach jeder Mensch das Recht auf Religionsfreiheit hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Konvertiten, Abschiebungsverbot, isolierter Wiederaufgreifensantrag, Wiederaufnahme des Verfahrens, Wiederaufnahmegründe, Religionsfreiheit, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention,
Normen: VwVfG § 51 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, VwVfG § 49 Abs. 1, VwVfG § 48 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Soweit die Klage danach noch anhängig ist, ist sie zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid ist nämlich insoweit rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, als die Ablehnung des Wiederaufgreifens des Verfahrens bezüglich der Feststellung aus dem Bescheid vom 9. Juni 2020 (Gz.: ...-439), dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Staates Iran nicht vorliegen, unter Verletzung des klägerischen Anspruchs auf ermessensfehlerfreie Bescheidung des Antrages auf ein "Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne" erfolgt ist (§ 113 Abs. 5 VwGO).

1. Den Klägern steht zwar aus dem im Bescheid dargelegten, zutreffenden Gründen [...] kein rechtlich zwingender Anspruch im Sinne des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens bezüglich der in dem Bescheid des Bundesamtes vom 9. Juni 2020 getroffenen (negativen) Feststellungen zu Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu. [...]

2. Die Kläger haben aber einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Wiederaufgreifensantrag, den die Beklagte bislang nicht erfüllt hat; da das der Beklagten in diesem Zusammenhang zustehende (Wiederaufgreifens-)Ermessen hinwiederum nicht "auf Null" reduziert und die Sache damit nicht spruchreif ist, war die Beklagte gemäß § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO zu verpflichten, den klägerischen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens bezüglich der Feststellung aus dem Bescheid vom 9. Juni 2020, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Staates Iran nicht vorliegen, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes neu zu bescheiden.

Ist ein sog. "Folgeschutzgesuch" gestellt, mit dem - wie hier allein - das Wiederaufgreifen eines Asylverfahrens beantragt wird, soweit zuvor in einem unanfechtbaren Asylbescheid die Feststellung von Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 Aufenthaltsgesetz abgelehnt worden war, und besteht - wie hier - kein zwingender Wiederaufgreifensanspruch nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG (sog. Wiederaufgreifen im engeren Sinne), bleibt gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG die Möglichkeit der Behörde unberührt, rechtswidrige Verwaltungsakte nach § 48 VwVfG zurückzunehmen bzw. rechtmäßige Verwaltungsakte nach § 49 VwVfG zu widerrufen. Auch wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG nicht vorliegen, kann daher die Behörde ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren nach pflichtgemäßem Ermessen zu Gunsten des Betroffenen Wiederaufgreifen und eine neue - der gerichtlichen Überprüfung zugängliche - Sachentscheidung treffen (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Dieser Möglichkeit entspricht das Recht des Betroffenen auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde über einen Wiederaufgreifensantrag im weiteren Sinne.

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesamt auf ein "Folgeschutzgesuch" hin nach pflichtgemäßem Ermessen zu  entscheiden, ob es eine bestandskräftige frühere Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zurücknimmt oder widerruft. [...]

Dieses Recht der Kläger auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Wiederaufgreifensantrag im weiteren Sinne (= Änderungsantrag) hat das Bundesamt bei Erlass des angefochtenen Bescheides verletzt. [...]

Hier ist die Ermessensentscheidung.des Bundesamtes als fehlerhaft zu bewerten, weil ein Ermessensfehlgebrauch vorliegt.

Die Behörde muss in die Ausübung ihres Ermessens, wenn sie von ihm zweckgerecht Gebrauch machen will, alle nach dem Entscheidungsprogramm, das ihr obliegt, wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte einstellen. [...]

Vor diesem Hintergrund war die Ermessensausübung des Bundesamtes hier insoweit defizitär, als es bei seiner Entscheidung über den Wiederaufgreifensantrag mit Blick auf das Entscheidungsprogramm, das sich aus § 60 Abs. 5 AufenthG ergibt, einen wesentlichen rechtlichen Gesichtspunkt außer Acht gelassen hat.

Nach § 60 Abs. 5 darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

In dem angefochtenen Bescheid hat das Bundesamt im Zusammenhang mit der Anwendung dieser Bestimmung lediglich die Frage erörtert, ob sich ein solches Abschiebungsverbot aus der Regelung in Art. 3 EMRK ergeben könnte, und weitergehend ausgeführt, dass eine Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK nicht in Betracht komme. Letzteres ist aber unzutreffend.

Der Fall der Kläger, die sich zur Begründung ihres Schutzbegehrens im Erstverfahren auf eine Konversion zum Christentum berufen haben, gebietet nämlich, die Frage des Wiederaufgreifens des Verfahrens bezüglich der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG gerade auch mit Blick auf Art. 9 EMRK zu prüfen. Denn in Art. 9 Abs. 1 EMRK ist bestimmt, dass jede Person unter anderem das Recht auf Religionsfreiheit hat und dieses Recht die Freiheit umfasst, seine Religion zu wechseln und sie einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizierung von Bräuchen und Riten zu bekennen. Da die Ausübung dieses Rechtes für Konvertiten, die sich ernstlich dem Christentum zugewandt haben und für die die ihrer Glaubenspraxis nach unverzichtbare Möglichkeit, gemeinsam mit anderen ihren Glauben durch Gottesdienst etc. zu bekennen, bei einer Rückkehr in den Iran nur unter der beachtlich wahrscheinlichen Gefahr von Rechtsbeeinträchtigungen, die nach der gängigen Rechtsprechungspraxis sogar flüchtlingsschutzrechtliche Ansprüche nach sich zögen, bestünde, hätte eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über den Wiederaufgreifensantrag jedenfalls auch eine Prüfung der Frage vorausgesetzt, ob eine Abschiebung der Kläger in den Iran mit einer Verletzung des Art. 9 EMRK einherginge oder - unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG weiterhin - nicht. Eine solche Prüfung des Für und Wider eines Wiederaufgreifens im weiteren Sinne unter dem Gesichtspunkt des Art. 9 EMRK hat das Bundesamt aber im Rahmen seiner Ermessensausübung nicht vorgenommen, weil es die Möglichkeit einer Art. 9 EMRK verletzenden Abschiebung überhaupt nicht in den Blick genommen hat.

Eine solche Prüfung war hier auch nicht mit Blick auf § 49 Abs. 1 VwVfG entbehrlich. Danach kann ein rechtmäßiger nicht begünstigender Verwaltungsakt zwar nicht widerrufen werden, wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste; d. h. mit anderen Worten, wenn ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste, wäre eine Ablehnung des Wiederaufgreifens mangels Entscheidungsalternative zugunsten des Betroffenen jedenfalls als rechtens zu bewerten. So liegt der Fall hier aber nicht.

Dagegen, dass das Bundesamt auch nach einem Wiederaufgreifen des Verfahrens den Antrag der Kläger auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 zwingend hätte wieder ablehnen müssen, soweit es um Art. 9 EMRK geht, spricht folgende Erwägung: Zwar haben die Kläger im Zusammenhang mit ihrer Konversion im Vergleich zu ihrem Vortrag im Erstverfahren - ihrer Rechtsauffassung folgend, dass allein das Fehlverhalten ihres früheren Anwalts ein Wiederaufgreifen erfordere - bislang keinen neuen Sachverhalt vorgetragen. Seit der Anhörung der Kläger im Erstverfahren im Juni 2019 bis zum Erlass des hier angefochtenen Bescheides von April 2022 sind aber fast drei Jahre und auch seit Eintritt der Rechtskraft des Erstbescheides im Juli 2020 immerhin schon fast zwei Jahre vergangen. Aufgrund dieses erheblichen Zeitablaufs kann nicht mit der - für die Feststellung, dass ein Verwaltungsakt gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste - erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Kläger in der Zwischenzeit neue konversionsbezogene Aktivitäten entfaltet haben, die möglicherweise einen Schutzanspruch auslösen und damit eine für sie günstige Entscheidung nach sich ziehen könnten, zumal das Bundesamt ihnen keine Gelegenheit gegeben hat, diesbezüglich Stellung zu nehmen.

Der in Rede stehende (Ermessens-)Fehler hat mithin hier zur Folge, dass der angefochtene Bescheid insoweit aufzuheben ist, als die Beklagte mit ihm - in der Sache nicht nur (zu Recht) den Antrag auf Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG, sondern auch den sinngemäß zugleich gestellten Antrag auf Wiederaufgreifen im weiteren Sinne ermessensfehlerhaft abgelehnt hat.

Da das Bundesamt den Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über den Wiederaufgreifensantrag im weiteren Sinne bislang nicht erfüllt hat, d.h. hier über den Antrag nicht unter ermessensfehlerfreier Abwägung der den Klägern im Iran unter dem Gesichtspunkt von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK möglicherweise drohenden Gefahren entschieden hat, war die Beklagte dementsprechend zu verpflichten, den Wiederaufgreifensantrag unter Ausübung des ihr nach §§ 48, 49 VwVfG zustehenden Wiederaufgreifens-/Änderungsermessens neu zu bescheiden.

Demgegenüber war die Beklagte nicht zu verpflichten, das Verfahren "im Ermessenswege" wieder aufzugreifen, bzw. das Gericht nicht verpflichtet, bzgl. der Abschiebungsverbote selbst "durchzuentscheiden". Ein solcher Anspruch stünde der Klägerseite nur zu, wenn das Wiederaufgreifens-/Änderungsermessen des Bundesamtes "auf Null" reduziert wäre, das heißt mit anderen Worten, jede andere Entscheidung des Bundesamtes als eine positive Wiederaufgreifens-/Änderungsentscheidung rechtswidrig wäre. Eine solche sog. "Ermessensreduzlerung auf Null" liegt hier aber nicht vor. Denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesamt sich bei der Abwägung des Für und Wider einer Wiederaufgreifens-/Änderungsentscheidung hier nicht in ermessensgerechter Weise gegen ein Wiederaufgreifen entscheiden könnte. Für eine solche Annahme bietet der bisherige Vortrag der Kläger und bieten auch die von ihnen angesprochenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts keinen Anlass. […]