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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 28.06.2022 - 2 BvL 9/14 u.a. - asyl.net: M30821
https://www.asyl.net/rsdb/m30821
Leitsatz:

Ausschluss vom Kindergeld nicht erwerbstätiger Personen mit humanitären Aufenthaltstiteln nach alter Gesetzeslage verfassungswidrig:

Die Ungleichbehandlung nach § 62 Abs. 2 Nr. 3 Bst. b EStG in seiner Fassung vom 13.12.2006, wonach unter den Personen mit humanitärem Aufenthaltstitel, die sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten, nur diejenigen einen Anspruch auf Kindergeld haben, die im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind oder es wegen Arbeitslosengeld I oder Elternzeit nur vorübergehend nicht sind, ist mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar und deshalb nichtig.

(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung: § 62 Abs. 2 EStG wurde mit Wirkung zum 1. März 2020 geändert)

Schlagwörter: Kindergeld, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Familienleistungen, Gleichheitsgrundsatz,
Normen: EStG § 62 Abs. 2 Nr. 3 Bst. b, GG Art. 3 Abs. 1
Auszüge:

[...]

2. Nach diesen Maßstäben ist § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.

a) Die Regelung bewirkt eine Ungleichbehandlung zwischen zwei Teilgruppen nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer, die einen humanitären Aufenthaltstitel nach den § 23 Abs. 1, § 23a, § 24 oder § 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG besitzen und sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten: Einen Anspruch auf Kindergeld haben gemäß § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 nur diejenigen, die zusätzlich zu den vorbenannten Merkmalen entweder im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b Alternative 1 EStG 2006) oder es nur vorübergehend nicht sind (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b Alternative 2 EStG 2006), weil sie laufende Geldleistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen (erste Teilgruppe). Wer sich hingegen – wie die Klägerinnen und der Kläger der Ausgangsverfahren – seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe a EStG 2006), aber weder berechtigt erwerbstätig ist noch laufende Leistungen der Arbeitsförderung bezieht oder Elternzeit in Anspruch nimmt (zweite Teilgruppe), erhält kein Kindergeld. [...]

b) Die verfassungsrechtliche Prüfung der vorgelegten Norm unterliegt auf der Ebene der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung einer über die reine Willkürprüfung hinausgehenden Verhältnismäßigkeitskontrolle. Dies folgt zum einen daraus, dass der Gesetzgeber die Kindergeldregelungen in ein abgestimmtes System von Steuerentlastung und Sozialleistung eingefügt hat, das unter anderem auch der Erfüllung und Konkretisierung des verfassungsrechtlichen – nicht auf Deutsche beschränkten – Schutzauftrags des Art. 6 Abs. 1 GG mit der Zielsetzung dient, die im Vergleich zu Kinderlosen verminderte finanzielle Leistungsfähigkeit der Familie teilweise auszugleichen (vgl. BVerfGE 111, 160 <169>; 112, 164 <175 f.>). Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass § 62 Abs. 2 EStG 2006 mit dem Aufenthaltsstatus an ein Differenzierungsmerkmal anknüpft, das überwiegend unabhängig von dem Verhalten der Betroffenen ist (vgl. BVerfGE 111, 160 <169 f.>). [...]

c) Die Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt. Zwar verfolgt der Gesetzgeber mit § 62 Abs. 2 EStG 2006 einen legitimen Zweck (aa). Die von ihm gewählten Differenzierungskriterien sind jedoch nicht geeignet, diesen Zweck zu verwirklichen (bb). Auch handelt es sich nicht um einen Fall zulässiger Typisierung (cc). Für sonstige, durch Förderungs- oder Lenkungsziele getragene Differenzierungsgründe fehlt es an einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung (dd).

aa) § 62 Abs. 2 EStG 2006 dient einem legitimen Zweck. Die Regelung hat das Ziel, Kindergeld nur solchen Personen zukommen zu lassen, die sich voraussichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten werden (vgl. BTDrucks 16/1368, S. 1, 8 f.). [...]

bb) Die vom Gesetzgeber gewählten Differenzierungskriterien bestimmen den Kreis der Leistungsberechtigten jedoch – bezogen auf das gesetzgeberische Ziel – nicht in geeigneter Weise, weil sich die Aufenthaltsdauer mittels der verwendeten Kriterien nicht hinreichend zuverlässig prognostizieren lässt. [...]

(4) Ungeeignet, die zuverlässige Prognose eines dauerhaften Aufenthalts zu begründen und damit das gesetzgeberische Ziel zu erreichen, ist jedoch das Kriterium einer Integration in den Arbeitsmarkt (§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006). [...]

Gerade bei humanitären Aufenthaltstiteln erscheint eine Korrelation zwischen einer Erwerbstätigkeit und der voraussichtlichen Aufenthaltsdauer weniger plausibel als etwa in Fällen einer gezielten Zuwanderung zum Zwecke der Ausbildung und nachfolgenden Erwerbstätigkeit, da die Aufenthaltsdauer bei den meisten humanitären Aufenthaltstiteln stärker von der Situation in den Herkunftsstaaten der Betroffenen als von deren eigener Lebensplanung abhängt. [...]

dd) Für andere Differenzierungsgründe fehlt es an einer ausreichend erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung für einen konkreten Förderungs- oder Lenkungszweck der im Schwerpunkt steuerrechtlichen Regelung. [...]

§ 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 ist gemäß § 82 Abs. 1 in Verbindung mit § 78 Satz 1 BVerfGG nichtig. [...]