VG Leipzig

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Zitieren als:
VG Leipzig, Urteil vom 06.05.2022 - 4 K 181/21.A - asyl.net: M30817
https://www.asyl.net/rsdb/m30817
Leitsatz:

In Venezuela droht Transgender-Personen Gruppenverfolgung:

Transgender-Personen bilden eine soziale Gruppe, die in der Gesellschaft und durch staatliche Institutionen, insbesondere die Polizei, vielfältigen Anfeindungen und Schikanen ausgesetzt ist. Aufgrund der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe besteht im Fall einer Rückkehr nach Venezuela die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Venezuela, Transgender, transsexuell, Gruppenverfolgung, Transfeindlichkeit, Polizeigewalt, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

1.2 Auf der Grundlage des geschilderten rechtlichen Maßstabs steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - unabhängig von einer individuellen Gefahrenprognose ihrer Verfolgungswahrscheinlichkeit als Einzelperson - schon allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe transsexueller Personen(§ 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) Verfolgung durch staatliche Akteure (§ 3c Nr. 1 AsylG) sowie nichtstaatliche Akteure (§ 3c Nr. 3 AsylG) droht, wobei die in § 3b Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG genannten Akteure erwiesenermaßen nicht willens sind, i.S.d. § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Die Klägerin ist transsexuell (nachstehend unter 1.2.1). Die Gruppe transsexueller Personen in Venezuela stellt eine soziale Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG dar (unter 1.2.2). Aufgrund der Zugehörigkeit der Klägerin zu dieser. sozialen Gruppe besteht im Falle ihrer Rückkehr nach Venezuela die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure (1.2.3). [...]

1.2.2 Die Klägerin als transsexuelle Person in Venezuela gehört einer bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an. [...]

1.2.2.2 Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf Transsexuelle in Venezuela erfüllt (so bereits VG Leipzig, Urt. v. 10. Juni 2020 - 4 K 168/20.A -, [SächsOVG - 4 A 815/20.A -], den Beteiligten bekannt; VG Dresden, Urt. v. 18. September 2019- 4 K 4786/17 -, juris Rn. 38 ff.).

1.2.2.2.1 Transsexuelle Menschen sind in Venezuela einer sozialen Gruppe zugehörig, die sich allein auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung und der geschlechtlichen Identität gründet (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsätze 2 und 4 AsylG). Sowohl die sexuelle Ausrichtung einer Person als auch die geschlechtliche Identität stellen Merkmale dar, die i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4a AsylG so bedeutsam für die Identität sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden darf, auf sie zu verzichten. Es kann dabei nicht gefordert werden, dass die geschlechtliche Identität oder Sexualität im Herkunftsland geheim gehalten oder  Zurückhaltung beim Ausleben der sexuellen Ausrichtung geübt wird, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden, wenn es zur selbstverstandenen Identität der betroffenen Person gehört, die eigene Sexualität zu leben (vgl. zu Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG, der durch § 3b AsylG in nationales Recht umgesetzt wurde: EuGH, Urt. v. 7. November 2013 - Rs. C-199/12 u.a. -, juris Rn. 46 f.). Demnach sind schicksalshaft unveränderliche persönliche Merkmale wie Transsexualität asylerheblich.

1.2.2.2.2 Die Personengruppe transsexueller Menschen besitzt in Venezuela eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet. wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4b AsylG). [...]

Gemessen daran ist festzustellen, dass zwar in Venezuela keine strafrechtlichen Bestimmungen existieren, die spezifisch Transsexuelle betreffen. Transsexualität ist in Venezuela nicht strafbar. Auch lässt sich ein niedergeschriebenes, offizielles staatliches Verfolgungsprogramm gegenüber transsexuellen Personen den Erkenntnismitteln nicht entnehmen. Allerdings ist das Gericht auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnislage davon überzeugt, dass es in Venezuela in der Lebenswirklichkeit entsprechende polizeiliche und sicherheitsbehördliche Maßnahmen in der erforderlichen Quantität gibt, die spezifisch auf Transsexuelle gerichtet sind, die als solche diskriminierend und menschenrechtsverletzend sind oder in diskriminierender oder menschenrechtsverletzender Weise angewendet werden, und die die erforderliche flüchtlingsrechtliche Intensität aufweisen (dazu nachstehend unter 1.2.3.1). [...]

1.2.3 Die Klägerin hat wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe transsexueller Menschen bei Rückkehr nach Venezuela beachtlich wahrscheinlich Verfolgung durch staatliche und nichtstaatliche Akteure in Gestalt von Handlungen zu befürchten, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (§ 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3, Abs. 3 AsylG). [...]

Transsexuelle sind aufgrund ihrer Geschlechtsidentität diskriminierenden Praktiken und Menschenrechtsverletzungen durch venezolanische Staatsbedienstete und Sicherheitskräfte ausgesetzt. Transsexuelle werden vor allem besonders häufig Opfer von gewaltsamen Übergriffen der Polizei. Häufig kommt es zu Übergriffen auf Transsexuelle durch Polizisten oder durch .mit Polizeiaufgaben betraute militärische Einheiten. [...]

1.2.3.2 Zudem droht der Klägerin wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe transsexueller Menschen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG, ohne dass der venezolanische Staat wirksamen Schutz hiervor bietet (§§ 3c, 3d AsylG), und ohne dass ihr interner Schutz zur Verfügung steht (§ 3e AsylG).

In Venezuela sind einer sexuellen Minderheit angehörende Personen in der Regel einer weit verbreiteten Diskriminierung ausgesetzt und sie werden des Öfteren Opfer von Gewalt. Die venezolanische Gesellschaft ist von einer Einstellung geprägt, die gemeinhin als "machismo" bezeichnet wird. Bestimmte Personengruppen (Homosexuelle, Transsexuelle) werden als Angriff auf die Männlichkeit erlebt und müssen mit Diskriminierung, Beschimpfungen und tätlichen Angriffen rechnen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 28. März 2018; Auskunft der Botschaft Caracas vom 1. Juli 2008 an das Auswärtige Amt auf das Auskunftsersuchen des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 8. April 2008). Dies gilt in besonderem Maße für transsexuelle Menschen. [...]

Der venezolanische Staat ist nicht willens, dagegen Schutz zu gewähren (§§ 3c, 3d AsylG). [...]