EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-14/21, C-15/21 (Seawatch gegen Italien) - asyl.net: M30816
https://www.asyl.net/rsdb/m30816
Leitsatz:

Zur Überprüfung und dem Festhalten ziviler Seenotrettungsschiffe:

1. Die Richtlinie 2009/16/EG (Richtlinie über die Hafenstaatkontrolle) ist auf Schiffe anwendbar, die vom Flaggenstaat als Frachtschiffe klassifiziert und zertifiziert sind, in der Praxis aber von humanitären Organisationen für die systematische, nicht gewerbliche Suche und Rettung von Personen in einer Gefahren- oder Notlage verwendet werden (zivile Seenotrettungsschiffe).

2. Gemäß Art. 11 Bst. b der Richtlinie 2009/16 kann der Hafenstaat zivile Seenotrettungsschiffe einer zusätzlichen Überprüfung unterziehen, wenn alle Maßnahmen zum Umsteigen oder der Ausschiffung der geretteten Personen abgeschlossen sind und wenn dieser Staat auf Grundlage detaillierter rechtlicher und tatsächlicher Gesichtspunkte belastbare Anhaltspunkte festgestellt hat, die eine Gefahr für die Gesundheit, die Sicherheit, die Arbeitsbedingungen an Bord oder die Umwelt belegen können.

3. Gemäß Art. 13 der Richtlinie 2009/16 ist der Hafenstaat bei gründlicheren Überprüfungen nach dieser Vorschrift befugt, den Umstand zu berücksichtigen, dass die Schiffe vom Flaggenstaat als Frachtschiffe klassifiziert und zertifiziert worden sind, in der Praxis aber für die zivile Seenotrettung verwendet werden. Der Hafenstaat ist jedoch nicht befugt, einen Nachweis zu verlangen, dass diese Schiffe über andere als die vom Flaggenstaat ausgestellten Zeugnisse verfügen oder dass sie sämtliche für eine andere Klassifikation geltenden Anforderungen erfüllen.

4. Gemäß Art. 19 der Richtlinie 2009/16 kann der Hafenstaat das Nichtfesthalten oder die Aufhebung einer Festhalteanordnung nicht davon abhängig machen, dass die Schiffe über Zeugnisse verfügen, die für die Seenotrettungstätigkeit geeignet sind und sämtliche entsprechenden Anforderungen erfüllen. Hingegen kann dieser Staat bestimmte Abhilfemaßnahmen im Bereich der Sicherheit, der Verhütung von Verschmutzung sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord auferlegen, sofern eine Gefahr für die Sicherheit, Gesundheit oder Umwelt besteht und eine Fahrt unter Bedingungen, die geeignet sind, die Sicherheit auf See zu gewährleisten, unmöglich ist. Solche Abhilfemaßnahmen müssen zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen sein. Zudem müssen ihr Erlass und ihre Durchführung durch den Hafenstaat Gegenstand einer loyalen Zusammenarbeit mit dem Flaggenstaat sein.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Seenotrettung, Flaggenstaat, Hafenstaat, Richtlinie über die Haafenstaatkontrolle, zivile Seenotrettung, Seenotrettungsschiffe,
Normen: RL 2009/16/EG Art. 11 Bst. b, RL 2009/16/EG Art. 13, RL 2009/16/EG Art. 19,
Auszüge:

[...]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1. Die Richtlinie 2009/16/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Hafenstaatkontrolle in der durch die Richtlinie (EU) 2017/2110 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. November 2017 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass

– sie auf Schiffe anwendbar ist, die zwar vom Flaggenstaat als Frachtschiffe klassifiziert und zertifiziert sind, in der Praxis aber von einer humanitären Organisation systematisch für eine nicht gewerbliche Tätigkeit der Suche und Rettung von Personen, die sich auf See in einer Gefahren- oder Notlage befinden, verwendet werden, und

– sie dem entgegensteht, dass eine nationale Regelung zu ihrer Umsetzung in innerstaatliches Recht ihre Anwendbarkeit auf Schiffe beschränkt, die für eine gewerbliche Tätigkeit verwendet werden.

2. Art. 11 Buchst. b der Richtlinie 2009/16 in der durch die Richtlinie 2017/2110 geänderten Fassung in Verbindung mit Anhang I Teil II der Richtlinie 2009/16 in geänderter Fassung ist dahin auszulegen, dass der Hafenstaat Schiffe, die eine systematische Such- und Rettungstätigkeit ausüben und sich in einem seiner Häfen oder in Gewässern befinden, die seiner Hoheitsgewalt unterstehen, nach ihrer Einfahrt in diese Gewässer und nach Abschluss aller Maßnahmen zum Umsteigen oder zur Ausschiffung der Personen, denen Hilfe zu leisten sich ihr jeweiliger Kapitän entschlossen hat, einer zusätzlichen Überprüfung unterziehen kann, wenn dieser Staat auf der Grundlage detaillierter rechtlicher und tatsächlicher Gesichtspunkte festgestellt hat, dass belastbare Anhaltspunkte vorlagen, die eine Gefahr für die Gesundheit, die Sicherheit, die Arbeitsbedingungen an Bord oder die Umwelt unter Berücksichtigung der Betriebsbedingungen dieser Schiffe belegen können.

3. Art. 13 der Richtlinie 2009/16 in der durch die Richtlinie 2017/2110 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Hafenstaat bei nach dieser Vorschrift durchgeführten gründlicheren Überprüfungen befugt ist, im Rahmen einer Kontrolle – die bezweckt, auf der Grundlage detaillierter rechtlicher und tatsächlicher Gesichtspunkte das Vorliegen einer Gefahr für Personen, Sachen oder die Umwelt im Hinblick auf die Betriebsbedingungen dieser Schiffe zu beurteilen – den Umstand zu berücksichtigen, dass Schiffe, die vom Flaggenstaat als Frachtschiffe klassifiziert und zertifiziert worden sind, in der Praxis für eine systematische Tätigkeit der Suche und Rettung von Personen verwendet werden, die auf See in einer Gefahren- oder Notlage sind. Hingegen ist der Hafenstaat nicht befugt, den Nachweis zu verlangen, dass diese Schiffe über andere als die vom Flaggenstaat ausgestellten Zeugnisse verfügen oder dass sie sämtliche für eine andere Klassifikation geltenden Anforderungen erfüllen.

4. Art. 19 der Richtlinie 2009/16 in der durch die Richtlinie 2017/2110 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass, wenn erwiesen ist, dass Schiffe, die, obwohl sie von einem Mitgliedstaat, dem die Eigenschaft als Flaggenstaat zukommt, als Frachtschiffe klassifiziert und zertifiziert worden sind, in der Praxis für eine systematische Tätigkeit der Suche und Rettung von Personen verwendet werden, die auf See in einer Gefahren- oder Notlage sind, so betrieben wurden, dass von ihnen Gefahren für Personen, Sachen oder die Umwelt ausgehen, der Mitgliedstaat, dem die Eigenschaft als Hafenstaat zukommt, das Nichtfesthalten dieser Schiffe oder die Aufhebung einer Festhalteanordnung nicht davon abhängig machen darf, dass die Schiffe über Zeugnisse verfügen, die für diese Tätigkeit geeignet sind, und sämtliche entsprechenden Anforderungen erfüllen. Hingegen kann dieser Staat bestimmte Abhilfemaßnahmen im Bereich der Sicherheit, der Verhütung von Verschmutzung sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord auferlegen, sofern diese Abhilfemaßnahmen durch das Vorliegen von Mängeln gerechtfertigt sind, die eindeutig eine Gefahr für die Sicherheit, Gesundheit oder Umwelt darstellen und eine Fahrt unter Bedingungen, die geeignet sind, die Sicherheit auf See zu gewährleisten, unmöglich machen. Solche Abhilfemaßnahmen müssen außerdem zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen sein. Zudem müssen ihr Erlass und ihre Durchführung durch den Hafenstaat Gegenstand einer loyalen Zusammenarbeit mit dem Flaggenstaat sein, wobei die jeweiligen Befugnisse dieser beiden Staaten zu beachten sind.