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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 01.08.2022 - C-411/20 S. gg. Deutschland (Asylmagazin 12/2022, S. 418 ff.) - asyl.net: M30814
https://www.asyl.net/rsdb/m30814
Leitsatz:

Ungleichbehandlung von Unionsbürger*innen aufgrund der Staatsangehörigkeit bei Kindergeld unionsrechtswidrig:

1. Ein Mitgliedstaat kann wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger*innen zwar während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts Sozialhilfeleistungen verweigern (Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie, Richtlinie 2004/38/EG). Beim Kindergeld handelt es sich allerdings nicht um eine Sozialhilfeleistung im Sinne dieser Vorschrift, da es unabhängig von persönlicher Bedürftigkeit gewährt wird und nicht der Sicherstellung des Lebensunterhalts dient. Das Kindergeld ist als Familienleistung einzustufen. Es ist mit Unionsrecht nicht vereinbar, wenn ein Unionsbürger, der in einen anderen Mitgliedstaat gezogen ist, Familienleistungen nur unter der Voraussetzung beziehen kann, dass er erwerbstätig ist, während ein Staatsangehöriger desselben Mitgliedstaates in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr aus einem anderen Mitgliedstaat dieselben Leistungen erhält, auch wenn er nicht erwerbstätig ist.

2. EU-Staatsangehörige können sich aber mit Blick auf die Gewährung von Familienleistungen nur dann auf den Grundsatz der Gleichbehandlung berufen, wenn sie sich nicht nur vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten, sondern ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesen Mitgliedstaat verlegt haben.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: Übersicht zu aktuellen EuGH-Entscheidungen vom 02.08.2022)

Schlagwörter: Ungleichbehandlung, EU-Staatsangehörige, Familienleistungen, Kindergeld, Wanderarbeitnehmer, Erwerbstätigkeit, Unionsrecht, Sozialleistungen, Sozialrecht,
Normen: RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, VO 883/2004/EG Art. 4, VO 883/2004/EG Art. 3 Abs. 1 Bst. j, VO 883/2004/EG Art. 1 Bst. z, EStG § 62 Abs. 1a
Auszüge:

[...]

2 [Das Vorabentscheidungsersuchen] ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen S, einer aus einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland stammenden Unionsbürgerin, und der Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit (Deutschland) (im Folgenden: Familienkasse) über deren Ablehnung des Kindergeldantrags von S für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts in Deutschland. [...]

17 Ende Oktober 2019 stellte S bei der Familienkasse einen neuen Antrag auf Kindergeld für ihre drei Kinder für die Zeit ab 1. August 2019.

18 Mit Bescheid vom 27. Dezember 2019 lehnte die Familienkasse diesen Antrag ab. Die Familienkasse stellte fest, dass S, V und ihre Kinder seit dem 19. August 2019, dem Tag, an dem sie von ihrem Herkunftsmitgliedstaat aus nach Deutschland einreisten und eine Wohnung in Bremerhaven bezogen hätten, ihren Wohnsitz in Deutschland hätten. Die Familienkasse ging allerdings davon aus, dass S in den ersten drei Monaten nach der Begründung ihres Wohnsitzes in Deutschland keine inländischen Einkünfte bezogen habe. Sie erfülle daher nicht die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1a EStG für den Bezug von Kindergeld für diesen Zeitraum.

19 Mit Entscheidung vom 6. April 2020 wies die Familienkasse den Einspruch von S gegen ihren Bescheid vom 27. Dezember 2019 zurück und bestätigte damit diesen Bescheid. [...]

20 S erhob beim vorlegenden Gericht, dem Finanzgericht Bremen (Deutschland), Klage auf Aufhebung der Ablehnung ihres Kindergeldantrags und auf Verurteilung der Familienkasse zur Zahlung von Kindergeld für die Monate August 2019 bis Oktober 2019.

21 Das vorlegende Gericht stellt erstens fest, dass das Kindergeld unter den Begriff der "Familienleistungen" gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 falle. Es werde nämlich nicht aus Beiträgen der Empfänger, sondern durch Steuern finanziert und den Begünstigten auf der Grundlage eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands unabhängig vom Einkommen und von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt. Das Kindergeld diene dem Ausgleich von Familienlasten.

22 Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass § 62 Abs. 1a EStG, der auf eine Gesetzesänderung vom Juli 2019 zurückgehe, eine Ungleichbehandlung vorsehe zwischen einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats als der Bundesrepublik Deutschland, der seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründe, und einem deutschen Staatsangehörigen, der dort nach einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründe. [...]

27 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 24 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats begründet hat und der wirtschaftlich nicht aktiv ist, weil er in diesem Staat keine Erwerbstätigkeit ausübt, die Gewährung von "Familienleistungen" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verweigert wird, während einem wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, nachdem dieser gemäß dem Unionsrecht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, diese Leistungen auch in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr in diesen Mitgliedstaat gewährt werden. [...]

31 Was die ersten drei Monate des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat betrifft, die allein Gegenstand der Vorlagefrage sind, sieht Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie vor, dass ein Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht. Nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie besteht dieses Recht für den Unionsbürger und seine Familienangehörigen fort, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja, C-424/10 und C-425/10, EU:C:2011:866, Rn.
39, und vom 25. Februar 2016, García-Nieto u. a., C-299/14, EU:C:2016:114, Rn. 42).

32 Folglich verfügt ein Unionsbürger, auch wenn er wirtschaftlich nicht aktiv ist, unter Beachtung der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 in Verbindung mit deren Art. 14 Abs. 1 genannten Voraussetzungen über ein Recht auf Aufenthalt von drei Monaten in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt. [...]

62 Zwar hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass nichts dagegen spricht, die Gewährung von in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 fallenden Leistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, von dem Erfordernis abhängig zu machen, dass diese die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2004/38 erfüllen [...]. [...]

63 Allerdings befindet sich ein Unionsbürger, der sich gemäß Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, dort, wie aus den Rn. 31 bis 33 des vorliegenden Urteils hervorgeht, in einer Situation des rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne dieser Richtlinie.

64 Daraus folgt, dass einem solchen Unionsbürger der in Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Grundsatz der Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats zugutekommt, und zwar auch dann, wenn er während der ersten drei Monate seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat gemäß den in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 wirtschaftlich nicht aktiv ist.

65 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass sich ein wirtschaftlich nicht aktiver Unionsbürger, der sich gemäß Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Hoheitsgebiet begründet hat, im Aufnahmemitgliedstaat für die Zwecke der Gewährung von Familienleistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 auf den in Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Grundsatz der Gleichbehandlung berufen kann. [...]

67 Eine unmittelbare Diskriminierung eines Unionsbürgers liegt vor, wenn eine Regelung des Aufnahmemitgliedstaats diesen Bürger, obwohl er sich rechtmäßig nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat, deshalb von Familienleistungen im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 ausschließt, weil dieser Bürger wirtschaftlich nicht aktiv ist, während derselbe Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen, auch wenn sie wirtschaftlich nicht aktiv sind, solche Leistungen gewährt, sobald sie, nachdem sie nach dem Unionsrecht von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, in diesen Mitgliedstaat zurückkehren.

68 Wie der Generalanwalt in Nr. 73 seiner Schlussanträge festgestellt hat, und in Anbetracht der Ausführungen in Rn. 61 des vorliegenden Urteils, kann eine solche Diskriminierung mangels einer ausdrücklichen Ausnahme in der Verordnung Nr. 883/2004 nicht gerechtfertigt werden.

69 Daher ist Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen, dass er dem Erlass einer Regelung wie der in Rn. 67 des vorliegenden Urteils genannten durch den Aufnahmemitgliedstaat entgegensteht.

70 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger, der sich im Aufnahmemitgliedstaat auf die Anwendung des in diesem Artikel verankerten Grundsatzes der Gleichbehandlung in Bezug auf die Voraussetzungen für die Gewährung von Familienleistungen im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 beruft, nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Buchst. j dieser Verordnung während des Zeitraums der ersten drei Monate, in dem ihm in diesem Mitgliedstaat nach Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ein Aufenthaltstitel erteilt wird, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat begründet haben muss und sich nicht im Sinne von Art. 1 Buchst. k dieser Verordnung vorübergehend dort aufhalten darf. [...]

73 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage wie folgt zu antworten:

– Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats begründet hat und der wirtschaftlich nicht aktiv ist, weil er in diesem Staat keine Erwerbstätigkeit ausübt, die Gewährung von "Familienleistungen" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verweigert wird, während einem wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, nachdem dieser gemäß dem Unionsrecht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, diese Leistungen auch in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr in diesen Mitgliedstaat gewährt werden.

– Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ist dahin auszulegen, dass er auf eine solche Regelung nicht anwendbar ist. [...]